Im Linienbus kommen Rumänen nach Dortmund Foto: dpa

Die Reviermetropole Dortmund kann den vielen Neuankömmlingen keine Perspektive bieten.

Dortmund - Vor dem „Stehcafé Europa“ hat sich an diesem grauen, nasskalten Morgen ein etwa 30köpfiger Menschenpulk gebildet. Der winzige dunkle Gastraum, in dem Spielautomaten an der Wand blinken, wirkt wenig einladend. Kaffee wird hier kaum getrunken. Dennoch entfaltet dieser Treff in der Mallinckrodtstraße in Dortmund Anziehungskraft.

Bulgaren und Rumänen warten hier auf Kleinlaster, die sie als Tagelöhner auf Baustellen oder zum Möbelpacken bringen. Für 2,50 bis fünf Euro die Stunde. Jeden Tag das gleiche Spiel. Ab fünf Uhr postieren sie sich vor dem abgetakelten Albaner-Café und warten gewöhnlich bis abends um acht. „Danach tut sich nichts mehr“, sagt Zalo. Der 26-jährige Bulgare steht fast jeden Morgen auf dieser Meile, Volksmund „Arbeitsstrich“ genannt.

Hier in der Dortmunder Nordstadt unweit des Hauptbahnhofs leben fast 60 000 Menschen auf nicht einmal 1500 Hektar. Die einstige Arbeitervorstadt ist der am dichtesten besiedelte Ballungsraum im Ruhrgebiet. Auf engem Raum stehen hier Gründerzeithäuser, zugleich aber gibt es auch verwahrloste Mietskasernen und Schrottimmobilien, Ein-Euro-Läden, Spielsalons und unansehnliche Internet-Cafés.

Die Dortmunder Nordstadt – eine Problemzone

Historisch war die Nordstadt immer der erste Anlaufpunkt Dortmunds für Einwanderer. Vor einem Jahrhundert kamen die polnischen Bergarbeiter, 50 Jahre später die Italiener, Spanier, Griechen und später die Türken, die vor allem in der Stahlindustrie Arbeit fanden. „Im Norden wohnen die Horden“, lautet eine steinalte Dortmunder Volksweisheit. Heute ist der Stadtteil ein Sanierungsfall, ein Gebiet für „sozialen und städtebaulichen Erneuerungsbedarf“, wie es im hochgestochenen Amtsdeutsch heißt.

Türken, Libanesen, Kroaten und Serben bestimmen seit etlichen Jahren das Straßenbild, zunehmend aber auch immer mehr Bulgaren und Rumänen. Seit 2007 ist die Zahl der Zuwanderer aus diesen beiden EU-Ländern, für die seit dem 1. Januar uneingeschränkte Arbeitnehmerfreizügigkeit gilt, von 573 auf 4500 Menschen angestiegen. Die meisten sind nach einem Dossier der Stadtverwaltung „mangelhaft qualifiziert, ein großer Teil Analphabeten, und viele der Kinder haben noch nie einen Kindergarten oder eine Schule besucht“.

Neben Duisburg, Düsseldorf und Köln ist Dortmund ein Ziel der Armutswanderer. Die Duisburger Stabsstelle für Informationslogistik will anhand der ausgewerteten Daten der Bundesagentur für Arbeit errechnet haben, dass in Dortmund gegenwärtig nur 14,8 Prozent der Zuwanderer aus Südosteuropa einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung nachgehen. Rund 90 Prozent der beim dortigen Jobcenter gemeldeten Bulgaren und Rumänen hätten keine abgeschlossene Berufsausbildung und damit kaum Chancen auf dem Arbeitsmarkt.

„Verhältnisse wie in der Bronx“

Die SPD-Landtagsabgeordnete Nadja Lüders sieht die Entwicklungen in der Nordstadt schon seit Jahren mit großer Besorgnis. „Früher musstest du da aufpassen, dass dir kein Junkie vor deinen Wagen gelaufen ist. Heute bist zu froh, wenn du eine Zentralverriegelung hast“, sagt die 43-jährige Sozialdemokratin, die sich mit dem Slogan „Ehrlich. Offen. Lüders“ bei den Wählern empfiehlt. Die Rechtsanwältin redet Klartext. „In der Dortmunder Nordstadt herrschen Verhältnisse wie in der Bronx.“ Inzwischen muss die örtliche Polizei rund um die Uhr von Bereitschaftspolizei unterstützt werden. Gewalt und Kriminalität sind kaum einzudämmen. Lüders selbst wohnt in dem etwas gediegeneren Stadtteil Lichtenberg. Wenn sie im dortigen SPD-Ortsverein über die Chancen und Vorzüge der Zuwanderung spricht, werden manche Genossen gallig und zeigen mit dem Finger auf die Nordstadt: „Watt hast Du immer mit Deiner Integration?“

In dem Rathausbau am Friedensplatz sitzt Birgit Zoerner, die Sozialdezernentin. Als sie 2011 aus dem Gesundheitsministerium in die Verwaltungsbehörde der Revierstadt wechselte, fand sie in der Nordstadt einen riesigen Straßenstrich vor. „Das war Elendsprostitution“, sagt Zoerner. Im Laufe eines Jahres zählte die Verwaltung dort über 700 Prostituierte, meist junge Frauen aus Osteuropa, die ihren Körper für kleines Geld verkauften. Ihre Freier kamen vor allem aus dem sittsamen Dortmunder Umland.

„Nicht selten mit dicken Autos“, wie die couragierte Sozialdezernentin bei einer Inspektion des Straßenstrichs angewidert feststellte. Inzwischen ist die gesamte Stadt auf maßgebliches Betreiben von Zoerner zum Sperrgebiet erklärt worden. Dagegen wird derzeit geklagt, aber eine höchstrichterliche Entscheidung steht noch aus.

Während sich die Richter noch mit dem Straßenstrich beschäftigen, hat es Zoerner nunmehr mit einem „Arbeitsstrich“ zu tun, auf dem sich bulgarische und rumänische Zuwanderer für Hungerlöhne verdingen. Die für Schwarzarbeit-Bekämpfung zuständigen Zollfahnder kämen kaum voran, weil es bei den Ausgebeuteten „praktisch kein Anzeigenverhalten“ gebe, beklagt sie.

Skrupellose Vermieter

Ebenso schwer fällt es den Behörden, jenen skrupellosen Vermietern das Handwerk zu legen, die in der Nordstadt in verwahrlosten Hochhäusern eine Matratze für 250 bis 300 Euro pro Monat vermieten. Bis zu 20 Menschen werden in manche Mansarde gepfercht. Anzeigen wegen Mitwucher sind eher selten. „Da herrscht die nackte Angst, Wohnung oder Arbeit zu verlieren“, sagt Zoerner. Als heimlicher Herrscher in dem Elendsviertel gilt ein türkischer Immobilienbesitzer, den sie dort „Kral“ rufen. Das ist türkisch und heißt übersetzt König.

Vor allem die oftmals türkisch sprechenden Bulgaren würden gezielt in die Nordstadt reisen, weil sie sich in dem dortigen Milieu verständigen könnten, berichtet Zoerner. Es gebe Hinweise darauf, dass die Armutswanderung von Leuten „gesteuert“ werde, die damit Geschäfte machten. „Wir müssen diese Strukturen trocken legen“, drängt die Dezernentin. Bereits am 9. März 2012, also vor fast zwei Jahren, hatte sie den Deutschen Städtetag in einem 13-setigen Vermerk vor den dramatischen Folgen der zunehmenden Armutswanderung gewarnt: „Den Neubürgern ist es bislang kaum gelungen, hier eine neue Lebensperspektive zu entwickeln. Das Alltagsleben, die Wohnsituation, die gesundheitliche Befindlichkeit, die Lage der Kinder und Jugendlichen sowie ihre Bildungssituation sind jeweils in spezifischer Weise prekär.“

Zoerner reiste auch nach Brüssel zur EU-Kommission. Dort stellte sie Kommissare und Europaabgeordnete zur Rede. „Wie ist es möglich, dass diese Wanderungsbewegungen als Folge der Osterweiterung offenbar weder auf EU- noch aus Bundesebene zum Thema wurden?“ Es sei doch nachvollziehbar, „dass Menschen, die unter prekärsten Bedingungen leben, jede Chance zur Änderung ihrer Situation ergreifen, auch wenn diese mit der Migration in ein anderes Land verbunden ist“, erläuterte die Dortmunderin den Brüsseler Bürokraten. Insofern seien „die Migrationsströme als Folgen der Osterweiterung vorhersehbar“ gewesen.

EU hat Probleme der Städte ausgeblendet

Doch die Probleme der Städte und Gemeinden würden in den EU-Beitrittsverfahren schlicht ausgeblendet. Die Kommunen verkämen zum „Sammelbecken der Regelungsdefizite“ für die vollzogenen EU-Beitritte, empörte sich Zoerner bei ihrer Brüssel-Visite. Derzeit wird der Haushalt der klammen Revierstadt, die 572 000 Einwohner zählt, mit mehr als fünf Millionen Euro alleine durch die Zuwanderung belastet.

Die Richtlinien zur Arbeitnehmerfreizügigkeit sind für Zoerner nicht realitätstauglich. Danach sind EU-Bürger verpflichtet, nach einer dreimonatigen Frist ihrer Meldepflicht nachzukommen, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten und Mitglied in einer Krankenversicherung zu werden. Doch für viele Zuwanderer in der Nordstadt ist dies in ihrem Elend kaum zu stemmen. Andererseits sind die Verpflichtungen, die sich aus der Arbeitnehmerfreizügigkeit ergeben, „kaum kontrollierbar“, wie Zoerner in einem Anflug von Resignation bekennt. „Und wenn Abschiebungen anstehen, dann hindert die Betroffenen nichts daran, zunächst aus- und wenig später wieder einzureisen“. Die Politik werde sich endlich damit abfinden müssen, dass die meisten dieser Migranten in Deutschland bleiben werden. „Zur Integration gibt es keine Alternative.“