Dorothe Beck ist Geschlechterforscherin und Journalistin. Foto: Privat Foto: Schwarzwälder Bote

Interview: 100 Jahre Frauenwahlrecht / Politikerinnen noch immer in der Minderzahl / Kulturwandel nötig

Wolfach. Es war ein Meilenstein: Vor 100 Jahren erhielten Frauen das aktive und passive Wahlrecht. Aus diesem Anlass lädt die Volkshochschule zu einem Vortrag mit der Journalistin und Geschlechterforscherin Dorothee Beck ein (siehe Info). Im Gespräch mit dem Schwarzwälder Boten erklärt sie, wie Politikerinnen wahrgenommen werden und wie dies die politische Arbeit prägt.

Frau Beck, ist Politik noch immer Männersache?

Derzeit ist vieles im Umbruch. Einerseits ist der Frauenanteil im Bundestag und in einigen Landesparlamenten zurückgegangen. Das lag am Einzug der AfD und dem Wiedereinzug der FDP. Beide Parteien lehnen Quoten ab. Das lag aber auch am Wahlrecht. Bei der CDU ist der Frauenanteil zurückgegangen. Das liegt daran, dass die CDU bei der jüngsten Bundestagswahl besonders viele Direktmandate errungen hat. Da kann nur eine Person kandidieren, eine Quote greift nicht. In aussichtsreichen Wahlkreisen werden noch immer Kandidaturen beim Bier im Hinterzimmer "ausgekungelt". Frauen haben dort kaum Zutritt und können sich deshalb schlechter durchsetzen. Deswegen hält Baden-Württemberg, dessen Wahlrecht ausschließlich auf Wahlkreiskandidaturen beruht, im Vergleich der Landesparlamente die rote Laterne. Und in den Kommunen sah es schon immer ziemlich schlecht für Frauen aus.

Es gibt aber auch erfolgreiche Frauen in der Politik...

Man muss sich die Politikfelder ansehen: Gleichstellungs-, Jugend- und Familienpolitik, Bildungspolitik, teilweise auch Gesundheit und Soziales sind fest in Frauenhand. Aber auch die politischen Kernressorts sind nicht mehr so sehr männerdominiert. Wir haben eine Bundeskanzlerin und eine Verteidigungsministerin. In Baden-Württemberg wacht Edith Sitzmann als Finanzministerin über den Haushalt. Die CDU-Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer hat als Innenministerin im Saarland angefangen. Die SPD schickt die bisherige Justizministerin Katharina Barley bei der Europawahl ins Rennen, um nur einige Beispiele zu nennen.

100 Jahre Frauenwahlrecht – was hat sich seitdem getan?

Zunächst hatte sich ganz lange wenig getan. 1918 das Frauenwahlrecht. 40 Jahre später gab es neben den 66 Vätern des Grundgesetzes nur vier Mütter. Und die hatten ihre liebe Not, den Gleichberechtigungsartikel 3 (2) ins Grundgesetz zu bekommen. Elisabeth Schwarzhaupt, als erste Bundesministerin zuständig für Gesundheit, wurde noch einmal 13 Jahre später ernannt. Die erste Ministerpräsidentin, Heide Simonis in Schleswig-Holstein, wurde 1993 gewählt. Die erste Kanzlerin folgte 2005. Und eine Bundespräsidentin haben wir noch immer nicht. Früher war es selbstverständlich, dass Parlamente und Regierungen reine Männerclubs waren. Die CDU plakatierte zur Bundestagswahl 1972 "Unser Mann für Bonn". Das hat allenfalls ein paar Frauenrechtlerinnen gestört. Erklärungsbedürftig war damals, ob eine Frau, die sich vielleicht doch mal durchgesetzt hatte, für das angestrebte Amt überhaupt kompetent ist. Bei Männern ging man von dieser Kompetenz einfach aus. Heute müssen sich Regierungen und Parteien rechtfertigen, bei denen die Frauen fehlen. Denken Sie an die Kritik, die Innenminister Seehofer für seine rein männlich besetzte Hausleitung einstecken musste. Neulich habe ich mitbekommen, wie sich zwei etwa zehnjährige Jungs darüber unterhalten haben, ob ein Mann auch Bundeskanzlerin werden könne. So fühlt sich historischer Wandel an.

Welche Chancen und vielleicht sogar Vorteile haben Frauen in der Politik?

Frauen haben dann Chancen, wenn sie ihr eigenes Ding durchziehen. Die grüne Verteidigungsexpertin Agniezka Brugger, die für einen oberschwäbischen Wahlkreis im Bundestag sitzt, hat Gesichtspiercings, einen eigenwilligen Kleidungsstil und schminkt sich auffällig. Zuerst drang sie kaum mit ihren politischen Positionen durch, weil die Medien sich lieber über den "Polit-Punk" ausließen. Mit Hartnäckigkeit hat sie sich ein Image als kompetente Verteidigungspolitikerin erarbeitet. Eine Chance habe Frauen auch dann, wenn sie sich explizit vom betont männlichem Politikstil abheben. Viele Menschen haben diesen satt. Das zeigen die Reaktionen auf Seehofers Krawall-Politik. Wenn Frauen demonstrieren, dass man auch anders Politik machen kann und damit weiterkommt, können sie punkten. In Koalitionen sind Pragmatismus, Dialog- und Kompromissbereitschaft gefragt. In diesem Wandel haben Frauen insofern einen Vorteil, als sie viele dieser Eigenschaften von klein auf lernen, weil sie als weiblich gelten.

Welche Rolle spielen Stereotype und wie können Frauen sie für sich nutzen?

Wir leben in einer Mediendemokratie. Und da werden Vorurteile und Stereotype vor allem über Medien verbreitet. Ein beliebtes Bild ist die Mutter: Merkel als Mutti, die Mutter der Kompanie von der Leyen, die Ministerpräsidentinnen als Landesmütter. Es gibt kaum andere positive Bilder von mächtigen Frauen. Macht von Frauen scheint nur gepaart mit Mütterlichkeit akzeptabel zu sein. Da werden zwar durchaus positive Eigenschaften transportiert – Bürgernähe, Empathie, Sparsamkeit. Aber das Mutterbild bezieht sich auch auf die familiäre Privatsphäre. Und dahin können Politikerinnen mithilfe der Metapher auch wieder geschickt werden. Eine Strategie ist auch, Vorurteile zu widerlegen und damit zu überraschen. Auch dafür ist Merkel ein Beispiel. "Kanndidat?" wurde 2005 gefragt, als sie zur Kanzlerin gewählt worden war. Kann eine Frau, die Jahre zuvor noch als "Kohls Mädchen" galt, eines der mächtigsten Länder der Welt führen? Sie kann, ob man ihre Politik nun gut findet oder nicht.

Frauenquote in der Politik: Ja oder nein?

Ganz eindeutig ja! Jede Wahlliste ist nach mehreren Aspekten austariert: nach Regionen, nach Glaubensbekenntnis, nach Parteiuntergliederungen. Quoten werden nur dann angezweifelt, wenn es um Frauen geht. Wir sehen am Bundestagswahlergebnis, was passiert, wenn Parteien gewählt werden, die ihre Listen nicht quotieren. Auch für Direktmandate gibt es Lösungen. Man könnte zum Beispiel Doppelwahlkreise bilden, für die die Parteien je einen Mann und eine Frau aufstellen müssen. Das wird in Frankreich auf kommunaler Ebene bereits praktiziert. Aber die Quote ist nur ein Instrument. Langfristig ist ein Kulturwandel in der Politik nötig. Der fängt bei der Sitzungs- und Diskussionskultur an und hört bei persönlichen Verhaltensweisen und Durchsetzungsstrategien noch lange nicht auf.

Die Fragen stellte Katharina Beule.

Anlässlich des Jubiläums 100 Jahre Frauenwahlrecht bietet die VHS am Donnerstag, 25. Oktober, einen Vortrag mit dem Titel "Bilder von Politikerinnen in den Medien" an. Beginn ist um 19 Uhr im Wolfacher Rathaussaal. Der Eintritt ist frei. Eine Anmeldung ist nicht erforderlich. Der Vortrag findet in Zusammenarbeit mit dem Gleichstellungsreferat des Landratsamts Ortenaukreis, dem Gleichstellungsreferat der Stadt Offenburg, der Hochschule Offenburg, der Kontaktstelle Frau und Beruf Freiburg - Südlicher Oberrhein der Stadt Freiburg und der Volkshochschule Offenburg statt. Er wird gefördert durch das Ministerium für Soziales und Integration Baden-Württemberg.