Die Rolle der Jugendämter wird in der aktuellen Diskussion hinterfragt. Foto: Weißbrod

Einschlägig vorbestrafter Sexualstraftäter klagt. Behörden stehen in der Kritik.

Villingen-Schwenningen - Die Postkarte aus Straubing zeigt die Sehenswürdigkeiten der niederbayerischen Stadt. Rathaus, Theresienplatz, die Karmelitenkirche. Die Zeilen auf der Rückseite klingen unverfänglich. Ein Mann schreibt seinen Kindern. Sagt ihnen, dass er sie vermisst. Es klingt wie ein Gruß aus dem Urlaub. Doch ebendieser Mann sitzt in einer Gefängniszelle der Justizvollzugsanstalt in Straubing.

Zwölf Jahre Haft verbüßt er dort, weil er sich an mehreren Kindern aus dem Freundes- und Familienkreis vergangen hat. "Fieber messen wollte", wie es im Prozessbericht heißt – im Gegenzug für Essen vom Schnellimbiss.

Hunderte Kilometer weit entfernt blickt Claudia Müller* (*die Namen wurden von der Redaktion geändert) mit einer Mischung aus Wut und Trauer auf die Postkarte, die auf dem Tisch liegt. Regelmäßig erhalten ihre Kinder Post von ihrem Ex-Mann – obwohl sie versucht, den Umgang zu unterbinden.

Es ist eine Geschichte voller Tragik. Als junge Frau lernt sie den 18 Jahre älteren Martin Müller* kennen. "Heute würde ich sagen, ich habe einen Vaterersatz gesucht", sagt sie nüchtern. Erst Jahre später erfährt sie, dass er bereits einmal wegen Kindesmissbrauchs verurteilt worden war.

"Heute weiß ich: Ich war jung, dumm, naiv. Ich habe ihm alles geglaubt"

Sie werden Eltern. Als ihr erstes der beiden gemeinsamen Kinder geboren wird, ist das Jugendamt regelmäßig zu Besuch. "Sie kommen wegen deiner Schwangerschaftsdepression", habe er gesagt. "Heute weiß ich: Ich war jung, dumm, naiv. Ich habe ihm alles geglaubt", sagt sie. Dass ihr Mann ein verurteilter Sexualstraftäter ist, so schildert sie das Geschehene, habe ihr das Jugendamt nicht mitgeteilt. Vielleicht sei man davon ausgegangen, sie wisse Bescheid. Müller stammt selbst aus zerrütteten Familienverhältnissen. Besuche vom Jugendamt waren für sie nichts Neues.

Doch was genau passiert, wenn bereits verurteilte Straftäter nach ihrer Haft Kontakt zu Kindern haben? Im Schwarzwald-Baar-Kreis ist das für die Gemeinden zuständige Jugendamt beim Landratsamt angesiedelt. Auf Nachfrage erklärt dieses, wie der im Sozialgesetzbuch festgeschriebene Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung umgesetzt wird. Werden Heranwachsende einer Gefährdungssituation ausgesetzt, müsse das Jugendamt sicherstellen, dass dem Kind nichts passiert. "Mögliche Gefährdungsmomente können unter anderem sexuelle Übergriffe, körperliche Misshandlungen oder die Vermarktung von pornografischen Schriften sowie pädophile Handlungen an Kindern oder Jugendlichen sein", erläutert Pressesprecherin Heike Frank.

Mitarbeiter von Institutionen, die mit Kindern im regelmäßigem Kontakt stehen, werden zum Thema Kinderschutz geschult und mobilisiert – und sollen das Jugendamt bei entsprechenden Beobachtungen informieren. "Erhält das Jugendamt eine solche Mitteilung, wird nach einem standardisierten Verfahren unverzüglich ein Schutzkonzept aktiviert", erklärt Frank. Ziel sei es, weitere Gefährdungsmomente auszuschließen. Fach- und Beratungsstellen werden eingeschaltet. "Manifestiert sich die Gefährdungssituation, überprüft das Jugendamt, ob es erforderlich ist, das Familiengericht anzurufen", betont die Pressesprecherin. Auch die Polizei werde eingebunden.

Ob in Müllers Fall die Behörden versagt haben?

Der Datenschutz macht es schwer, dies nachzuvollziehen. Zu einzelnen Fällen werden grundsätzlich keine Auskünfte erteilt. Das Landratsamt Schwarzwald-Baar-Kreis ist mittlerweile mit dem Fall betreut, in früheren Jahren aber – bis hin zu Müllers Inhaftierung – waren andere Behörden zuständig, da die Familie in einem anderen Landkreis lebte.

Der Fall der Müllers zeigt allerdings, wie weit der Resozialisierungsgedanke reicht. Ein Mann, der seine Strafe – so schrecklich das Verbrechen auch sein mag – verbüßt hat, kann nicht wegen des Generalverdachts, rückfällig zu werden, unter Beobachtung stehen. Dass sich ebendieser aber ereignete, zeigt der weitere Verlauf der Geschichte.

Denn vor rund fünf Jahren wird Martin Müller bei der Polizei angezeigt. Der Vorwurf: Er soll sich an vier Kindern aus dem Freundes- und Familienkreis vergangen haben, darunter sein Neffe. Das Ehepaar lebt zu dieser Zeit bereits im Trennungsjahr. Er wird festgenommen, sitzt bis zum Prozess in U-Haft. Nahezu zeitgleich, aber unabhängig von den Vorwürfen, eröffnet der vierjährige Robin* seiner Mutter, dass sich sein Vater auch an ihm vergangen habe. "Und dann steht man da, völlig geschockt", erinnert sie sich zurück.

Auf einmal machte für sie vieles Sinn, was sie vorher anders sah. Dinge, denen sie keine Bedeutung zumaß. Warum etwa ihr Neugeborener sich nicht mehr wickeln lassen wollte. Warum das sechs Monate alte Kind wie am Spieß schrie, wenn man seine Windel öffnete. Was eine auf einmal plausibel erscheinende Erklärung für das sein könnte, was sie als Wundausschlag an seinem Babypo abtat.

Polizei bearbeitet jedes Ermittlungsverfahren "unvoreingenommen"

Dass sich ihr Ex-Mann an ihren gemeinsamen Kindern vergangen hat, steht für sie fest. Doch für die Polizei sind es trotz der Vorgeschichte des Mannes und der Vorwürfe, wegen derer er in U-Haft sitzt, lediglich Indizien. Der kleine Junge möchte seine Aussagen vor den Beamten nicht wiederholen. Fakt ist: Der bereits verurteilte Sexualstraftäter konnte seine Kinder über einen längeren Zeitraum ohne Aufsicht sehen. Eine Untersuchung lehnt Claudia Müller indes ab, um dem Vierjährigen weiteres Leid zu ersparen. Ein Fehler, wie sie heute sagt. So steht Aussage gegen Aussage. "Man konnte ihm schlussendlich nichts nachweisen", sagt sie resigniert.

Dass die Polizei in solchen Fällen unabhängig von vorherigen Straftaten oder der Vorgeschichte ermitteln muss, erklärt Michael Aschenbrenner, Leiter der Stabsstelle Öffentlichkeitsarbeit des Polizeipräsidiums Tuttlingen. Es dürfe keinen Unterschied machen, ob ein Verdächtiger bereits wegen ähnlicher Straftaten verurteilt wurde. "Die Polizei muss jedes Ermittlungsverfahren in Bezug auf Sexualstraftäter im Zusammenhang mit Kindern oder Jugendlichen gleichermaßen sorgfältig und unvoreingenommen bearbeiten", betont er.

Missbrauch komme in allen Alters-, Gesellschafts- und Bildungsschichten vor. "Sexueller Missbrauch von Kindern und Jugendlichen wird überwiegend von Männern, aber auch von Frauen verübt", erklärt der Polizist. Bei Frauen blieben die Taten allerdings oft unentdeckt, da sich viele Handlungen unter dem Deckmantel der "hygienischen Pflege" der Kinder abspielen.

Aussagen der Kinder "sehr wichtig"

Bei entsprechenden Ermittlungen seien allen voran die Aussagen der geschädigten Kinder "sehr wichtig". Sofern entsprechende Bild- oder Videoaufnahmen fehlten, könne nur das betroffene Kind real erzählen, was passiert sei. "Ergeben sich aus den Aussagen der Kinder Hinweise darauf, dass bei den Übergriffen Verletzungen entstanden sind, wird im Rahmen des Ermittlungsverfahrens eine ärztliche Untersuchung durchgeführt", beschreibt der Pressesprecher die Schritte, die zusätzlich zur Sicherung aller relevanten subjektiven und objektiven Befunde durchlaufen werden.

Martin Müller wird schlussendlich aufgrund der Missbrauchsvorwürfe, wegen derer er bereits in U-Haft sitzt, vor dem Landgericht der Prozess gemacht. Keine Woche dauert es, ehe der Richter ihn für schuldig befindet: zwölf Jahre mit anschließender Sicherungsverwahrung. Zu einer Anklage wegen des Missbrauchs seiner eigenen Kinder kommt es indes nie.

Claudia Müller entscheidet sich nach Prozess-Ende für einen Neuanfang im Schwarzwald-Baar-Kreis. Doch ihr Ex-Mann beginnt, Forderungen zu stellen. Er wolle die Kinder sehen, mit ihnen telefonieren, den Kontakt aufrechterhalten. Schließlich, heißt es im Schreiben seines Anwalts, sei er "bis zu seiner Inhaftierung eine wichtige Bezugsperson gewesen". "Für mich hat er seine Rechte als Vater verwirkt, als er unsere Kinder angefasst hat", meint Müller.

Dass das nicht so einfach ist, zeigt eine Nachfrage beim auf Familienrecht spezialisierten Anwalt Johannes Baier. Trotz des schwierigen und mit Emotionen belasteten Themas dürfe man nicht aus den Augen verlieren, dass auch ein Straftäter seine Rechte nicht automatisch durch seine Verurteilung verliere. So sei es verständlich und legitim, dass er prüfen lasse, ob er Umgang mit seinen Kindern haben kann. "Das ist das Prinzip unseres Rechtsstaats", betont Baier. Ein Richter entscheide allerdings nicht über den Kopf der Kinder hinweg. "Maßstab für eine Entscheidung des Gerichtes ist immer das Wohl des Kindes", erklärt er.

"Er hatte schon zwei Chancen. Eine dritte hat er nicht verdient"

Claudia Müller kämpft nun um das alleinige Sorgerecht. Der Inhaftierte klagt dagegen, will weiterhin ein Umgangsrecht. Erst kürzlich hat seine Anwältin, die sich nicht zu dem Fall äußert, gegen das Urteil des Amtsgerichts Beschwerde eingelegt. Die Akte liegt nun beim Oberlandesgericht. Die Entscheidung zieht sich hin. Eine Situation, unter der die ganze Familie leidet. Sowohl Claudia Müller als auch ihre drei Kinder befinden sich in psychologischer Betreuung. "Das Innere ist kaputt, ob man will oder nicht", sagt sie. Die Jungen zeigen seit Jahren Verhaltensauffälligkeiten. Familie und Freunde, deren Kinder ihr Ex-Mann nachweislich missbraucht hatte, haben sich von ihr abgewandt. "Es ist keiner mehr da", bilanziert sie.

Ob sie etwas übersehen hat? Es ist eine Frage, die sie sich oft stellt. "Hätte ich meine Kinder besser schützen können?", fragt sie in den Raum – und blickt wie zur Antwort resigniert auf die Tischplatte. Für einen Moment scheint sie ein Leben vor Augen zu haben, in dem all das nicht passiert wäre. Dann fällt ihr Blick wieder auf die Postkarte. Der Augenblick ist vorbei. Was bleibt, ist Wut. Auf die Behörden, die schwiegen. Auf sich selbst, die zu wenig nachfragte. Und auf ein Rechtssystem, das ihren Mann noch immer in ihr Leben und das ihrer Kinder lässt. "Er hatte schon zwei Chancen. Eine dritte hat er nicht verdient."