Interview: Sebastian Alscher von der Piratenpartei beklagt die Entmündigung der Bürger durch Politiker / Themen für junge Wähler

Sebastian Alscher kommt aus Villingen und tritt für die Piratenpartei bei der Bundestagswahl als Spitzenkandidat auf Bundesebene an. Im Gespräch befürwortet er nicht nur, dass es mehr Volksentscheide geben soll. Er hat auch eine klare Meinung, wenn es um Politiker – und ihr Verhältnis zu den Wählern geht.

Warum engagieren Sie sich politisch?

Eigentlich muss ich die Frage zweimal beantworten...

Oh. Einmal reicht.

Ich war zu Schulzeiten aktiv und dann seit ein paar Jahren erst wieder, dazwischen gab es eine ziemlich inaktive Phase, wegen Studium und Job. Ich fand es einfach eine echte Frechheit, dass Politik vor allem für "alte Menschen" gemacht wird, bloß weil sie zwei Drittel der Wähler stellen. Daher hatte ich mich sehr dafür eingesetzt, dass es mehr Jugendparlamente gibt, war auch im Bundestag eingeladen und hab mir von Rita Süssmuth warme Worte und Versprechungen angehört...

...die alle eingehalten wurden?

Wir warten noch heute auf ein ständiges Jugendparlament auf Bundesebene. Erst, wenn die Jugend als Finanzierer der Rente verstanden wird und es mehr gesellschaftlichen Zusammenhalt gibt, wird sich das ändern.

Jetzt habe ich Ihre Antwort auf meine Frage unterbrochen. Also zurück: Warum engagieren Sie sich politisch?

Seit ein paar Jahren werden immer mehr Gesetze erlassen, die es ermöglichen, uns Bürger zu kontrollieren und zu überwachen. Gleichzeitig ist eine Partei am rechten Rand immer stärker geworden. Und mit Geburt unseres Kindes stand plötzlich die Frage im Raum, für die ich lieber eine gute Antwort haben würde: ›Warum hast du zugelassen, dass ein dichtes Netz staatlicher Überwachung geschaffen wurde, obwohl du gesehen hast, dass der rechte Rand immer stärker wird? Warum hast du Innenminister Gauland diese Mittel an die Hand gegeben?

Haben Sie das?

Wir sehen zu und wehren uns nicht dagegen, es gibt wenig Protest, der von breiten gesellschaftlichen Schichten getragen wird. Das war für mich der Auslöser, erneut aktiv zu werden. Und neben dem Motiv von Mitbestimmung in der Demokratie geht es diesmal auch darum, die Freiheit zu erhalten oder zu schaffen, die jedem bestmöglichst erlaubt, sich in einer Gesellschaft selbst zu verwirklichen.

Wenn Sie Veränderungen wollen, warum engagieren Sie sich gerade bei der Piratenpartei?

Die Piraten stellen den Menschen in den Mittelpunkt, und bei jeder möglichen Frage wird immer überlegt: Ist das eher gut für den Menschen, oder eher schlecht. Das gefällt mir. Wir kämpfen für die individuelle Freiheit und Selbstbestimmtheit des Menschen und darum, ihm zu ermöglichen, an gesellschaftlichen und politischen Entscheidungen teilzunehmen. Und das sehe ich auch an der Partei selbst. Es gibt keine umfangreichen Hierarchien, sondern jeder kann sich einbringen, indem er eigene Aktionen startet. Es gibt bei uns auch keine Delegierten, man muss sich nicht erst einen Orden verdienen oder lange dabei sein.

Vor Jahren sind die Piraten als Protestpartei angetreten. Bis heute sind sie aus den Parlamenten verschwunden. Ist es nicht besser, man setzt auf eine Partei, die Aussichten hat, eine Wahl zu gewinnen?

Naja, wir sind aus den Landesparlamenten vor kurzem verschwunden, in denen nun eine AfD sitzt. Im Europapalarment und in vielen Kommunen sind wir mit insgesamt etwa 400 Abgeordneten aber immer noch aktiv.

Warum sind Sie nicht bei einer Partei, die jetzt schon gestalten kann?

Grundsätzlich gibt es ja zwei Wege, wenn man politisch etwas erreichen möchte. Entweder man geht in eine Partei, die gerade in einem Parlament sitzt, bevorzugt in der Regierung. Wenn man sich da aber einbringen möchte, dann ist man erst mal eine kleine Nummer und muss sich beweisen, bis man den Kreisdelegierten bitten darf, auf einer Delegiertenkonferenz einen Antrag einzubringen. Ich kenne renommierte Internetaktivisten, die in Regierungsparteien eingetreten sind, weil sie mit ihrer Kompetenz da Lücken füllen konnten. Mittlerweile steigt ihre Frustration, weil sie kein Gehör finden.

Ok, das war der erste Weg.

Der andere Weg ist, in einer Partei zu sein, in der man unmittelbar aktiv ist und mitmachen kann, aber eben die Chancen erarbeitet werden müssen, in ein Parlament zu kommen. Dafür ist man bis dahin schon mal mit Gleichgesinnten organisiert. Letzten Endes halte ich den zweiten Weg für gesünder für mich, weil man merkt, dass man nicht alleine kämpft. Das würde demotivieren. Doch Motivation ist wichtig, wenn man etwas verändern will.

Ein Kernthema ihrer Partei ist direkte Demokratie. Was glauben Sie: Verhindern die Parteien, die momentan das Sagen haben, mehr Volksabstimmungen?

Die Regelungen für Volksbegehren sind ja in der Bundes- oder den Länderverfassungen festgelegt, mit entsprechenden Hürden. Und selbstverständlich könnte man die mit einer Mehrheit so ändern, dass die Mitbestimmung der Bürger erleichtert wird. Zudem: Meine Erfahrung mit Politikern ist, dass sie die Meinung des Bürgers oft als eher störend und unnütz empfunden werden. Das ist auch die Erfahrung, die viele Mitglieder von Mehr Demokratie e.V. bestätigen. Es ist eine Entmündigung von uns Bürgern. Wenn die Welt der Bürger und die Politik aber als zwei getrennte Sphären verstanden werden, muss man als Politiker daran arbeiten, das zu ändern.

Glauben Sie, dass gerade junge Wähler an Volksentscheiden teilnehmen würden, wenn es sie gäbe?

Das ist eine schwierige Frage. Über Jahre hinweg hat man signalisiert, dass man an der Meinung junger Wähler nur interessiert ist, wenn sie das eigene Vorgehen bestätigen.

Zum Beispiel?

Wirklich zählen würde ihre Meinung, wenn man sie zulassen würde. Und dazu gehört auch, Fehler zuzulassen. Zum Beispiel beim Thema Digitalisierung in Schulen. Da muss man auch die Schüler fragen: ›Wollt ihr das eigentlich?‹

Zurück zu der "schwierigen Frage": Würden junge Wähler an Volksentscheiden teilnehmen, wenn es sie gäbe?

Letzten Endes darf Ihre Frage in Bezug auf das Angebot von Volksentscheiden keine Rolle spielen. Denn es geht darum, die Möglichkeit zu schaffen, dass man teilnehmen kann, wenn man es möchte. Das ist der erste Schritt. Ich bin der Meinung, dass man Mitbestimmung so gestalten muss, dass es einfach ist, daran teilzunehmen. Mittlerweile tauscht man sich in Gruppen über Whatsapp und ähnliche Messenger mit anderen aus. Wenn man etwas nicht mag, dann drückt man das durch das Teilen entsprechender Bilder oder Beiträge über Facebook aus. Junge Wähler haben in der Regel eine Meinung, und das Interesse, diese zu sagen, ist also offensichtlich auch da.

Dennoch nehmen sie kaum an Wahlen teil.

Man muss Jugendliche und junge Erwachsene da ansprechen, wo man sie erreicht.

Die Wähler zwischen 18 und 25 Jahren sind eine verschwindend kleine Größe. Sind sie für Parteien als Zielgruppe überhaupt interessant?

kann nicht verallgemeinern. Wir Piraten überlegen immer, wie eine menschenwürdige Zukunft aussieht, in der wir mindestens genauso selbstbestimmt und frei sind wie jetzt. Und Zukunft heißt: in zehn, 20 oder 30 Jahren, Zukunft ist keine Wahlperioden. Wir machen nicht nur eine Politik für Menschen im Alter 60-plus, sondern auch für diejenigen, die unter einer miserablen Politik leiden werden, die jetzt nicht zum Beispiel durch Investitionen in Bildung und Infrastruktur sinnvolle Rahmenbedingungen für nächste Generationen schaffen.

Macht sich die Gruppe der 18- bis 25-Jährigen kleiner als sie ist?

Es handelt sich um weniger als 5,5 Millionen Wahlberechtigte. Durch die Wahlbeteiligung macht sich die Gruppe der 18- bis 25-Jährigen leider tatsächlich kleiner als sie ist. Denn wenn sie wollte, könnten sie sich die Macht und Einflussnahme erkämpfen, schließlich sollen sie die Renten der jetzigen Stammwählerschaft von SPD und CDU sichern. Ein leichter Schritt wäre, alleine die Wahlbeteiligung zu erhöhen. Zwar gibt es dann immer noch mehr Wahlberechtigte, die älter sind als 70 Jahre, aber das wird sich mit der Zeit verschieben, und dann werden diese Parteien feststellen, dass es eine schlechte Idee war, die Jungen zu vergessen.

Mit welchen Themen könnte diese Zielgruppe für Politik interessieren?

Die einen interessieren sich für den Bereich freie Meinungsäußerung (Zensur in Netzwerken). Bildung (Studiengebühren, Renovieren baufälliger Schulen) oder für Fragen wie: ›Wie sieht Arbeit in der Zukunft aus‹, ›Muss ich in einer teuren Stadt leben, um Arbeit zu haben, oder um vernünftigen Zugang zum Internet zu haben‹.

Was macht gute Kommunikation mit jüngeren Wählern aus?

Voraussetzung ist in meinen Augen, dass sich Politik nicht in eine komplizierte oder gar juristische Sprache flüchtet, um so im Elfenbeinturm zu bleiben. Wir Piraten arbeiten daran, das zu entzaubern.  Die Fragen stellte

Alexander Kauffmann

Zur Person: Sebastian Alscher ist 40 Jahre, hat eine Tochter und wohnt mit seiner Familie in Frankfurt. In der Bankenmetropole war er 15 Jahre als Investmentbanker tätig. Er kommt aus Villingen und hat hier seinen Schulabschluss abgelegt. In die Piratenpartei ist er 2016 eingetreten, mitgemacht hat er schon vorher. Die Vilinger Piraten treffen sich im Vier-Wochen-Rhythmus im OM Café (Obere Str. 12/1, Villingen). Der nächste Termin ist am Mittwoch, 5. Juli, um 18 Uhr.