Vor dem Tübinger Landgericht musste sich der jetzt Verurteilte verantworten. Foto: Link

Ein junger Mann sticht am helllichten Tag mitten in Calw mit einem Messer brutal auf eine Frau ein. Warum er das tat, bleibt ein Rätsel. Jetzt verurteilt ihn ein Gericht zu einer Gesamtstrafe von sechs Jahren und einem Monat Haft – und ordnet die Unterbringung in der Psychiatrie an.

Tübingen - Der junge Mann, der im großen Schwurgerichtssaal in Tübingen auf der Anklagebank Platz nimmt, ist großgewachsen, hat dunkle Haare, ein stämmiger Bursche von 20 Jahren. Das Urteil wegen versuchten Mordes, schwerer Körperverletzung sowie Sachbeschädigung nimmt er ohne sichtbare Gefühlsregung auf, sein Blick richtet er meist auf seine Hände, er scheint ruhig und gelassen. Dass er, wie der vorsitzende Richter Armin Ernst in seiner Urteilsbegründung sagt, für "sehr lange Zeit", in ein psychiatrisches Krankenhaus muss, scheint ihn ebenfalls nicht zu berühren.

Aber wie Richter Ernst sagt, der Mangel an Gefühlen und Empathie zählt zu den großen Problemen des Verurteilten.

Attacke mitten in der Lederstraße

Blick zurück: Es ist der 15. August 2021, ein Sonntag, in der Lederstraße im Herzen von Calw. Es ist 8.30 Uhr, in der Einkaufsstraße ist um diese Zeit noch nicht viel los. Der junge Munir S. nähert sich einer Passantin, die in ein Schaufenster schaut, in der Hand hält er ein Messer. Das Messer habe er dabei so gehalten, dass andere Passanten und das Opfer es nicht sehen können, sagt Richter Ernst. Dann nimmt er sein Opfer Petra S. in eine Art Würgegriff und sticht fast 20 Mal auf den Körper der Frau ein. Nur durch das beherzte Eingreifen einiger Passanten lässt der Angreifer von seinem Opfer ab. Der Blutverlust der Frau ist enorm. "Es ist nur der ärztlichen Kunst zu verdanken, dass sie die Messerattacke überlebt hat", so der Richter in der Begründung seines Urteils. Die Tatsache des versuchten Mordes sei damit gegeben.

Was aber auch nach dreitägigen Verhandlungen und zahlreichen Zeugenaussagen völlig unklar bleibt, ist die Frage, warum der Verurteilte ausgerechnet diese Frau zum Opfer gewählt hatte. Am besten bringt Oberstaatsanwältin Rotraut Hölscher das Rätsel in ihrem Plädoyer auf den Punkt: "Wie und wo das Ganze den Anfang genommen hat, was der Geschädigten Petra S. fast das Leben gekostet hat, wissen wir nicht." Auch Richter Ernst hat keine Erklärung, es heißt, der Angreifer sei kurz zuvor vor einer Bank mit seinem Opfer flüchtig zusammengetroffen. "Möglicherweise hat sie ihn an seine frühere Pflegemutter erinnert", aber auch das seien lediglich Mutmaßungen, sagt Ernst. Der Angeklagte selbst äußert sich nicht. Er meinte in einem Gespräch mit einem Sachverständigen lediglich, er habe etwas "Knastwürdiges" tun wollen.

Frage nach der Schuldfähigkeit

Eine der entscheidenden Fragen des Prozesses war denn auch die Frage der Schuldfähigkeit. Richter Ernst schließt sich in seiner Urteilsbegründung weitgehend der Einschätzung des Sachverständigen an. Demnach leidet der Verurteilte unter einer "Intelligenz-Minderung" sowie an einer "Autismus-Störung". Allerdings folge daraus nicht, dass der Mann auf der Anklagebank schuldunfähig sei. "Die Einsicht in das Unrecht seines Handelns war durchaus vorhanden", so der Richter. Munir S. "weiß, dass er andere Menschen nicht mit dem Messer verletzten darf."

Doch die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten, vernünftige Handlungsalternativen zu erkennen, sei "erheblich eingeschränkt", es bestehe daher lediglich eine "verminderte Schuldfähigkeit". Und zur Veranschaulichung fügt der Richter hinzu, man müsse sich "vor Augen führen, dass er nicht in der Lage ist, Empathie für das Opfer zu empfinden".

Schwieriger Werdegang von Munir S.

Der Sachverständige, ein Facharzt für Forensische Psychiatrie, der von der Staatsanwaltschaft beauftragt worden war, hatte zuvor ausführlich auf den schwierigen Werdegang von Munir S. hingewiesen. Der Vater habe die Mutter geschlagen, später sei der Junge in eine Pflegefamilie gekommen, aus der er sich dann aber gelöst habe, 2021 sei er schließlich in das Zentrum für Psychiatrie (ZfP) in Calw gelangt.

Dort kam es im Juli 2021, also einen Monat vor den Messerstichen in der Lederstraße in Calw, zu einem Zwischenfall: Der Verurteilte hatte sein Zimmer verwüstet und sich mit einem Messer selbst verletzt – der Polizeibeamte, der damals den Fall aufgenommen hatte, berichtete in dem Prozess in Tübingen, vor allem die "auffällige Ruhe" des Täters sei ihm in Erinnerung geblieben. Der Sachverständige plädierte daher für eine dauerhafte Unterbringung in der Psychiatrie, denn der Täter könne jederzeit zu weiteren Gewalttaten neigen. Auch Staatsanwältin Hölscher hatte für einen langfristigen Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik plädiert, dies sei "zwingend erforderlich", da der Mann auf der Anklagebank weiterhin "hochgefährlich" sei – "knastwürdig" sei er auf jeden Fall nicht.

Inteligenz-Minderung betont

Richter Ernst betonte in diesem Zusammenhang, die Intelligenz-Minderung sowie die Autismus-Störung des Angeklagten seien "mit Medikamenten nicht behandelbar". Entscheidend sei eine langfristige psychiatrische Behandlung, bei der es darauf ankomme, "sozial inadäquates, schädliches Verhalten abzutrainieren" – und andere Verhaltensmuster anzutrainieren. Man könne nur hoffen, dass am Ende einer solchen Behandlung im Maßregelvollzug der Patient so weit "stabilisiert" sei, dass er in einem "beschützten Rahmen" – etwa betreutes Wohnen – leben könne. Ausdrücklich fügte er hinzu: "Aber wie gesagt, das bedarf einer sehr langen Behandlung". Ernst nannte dabei eine Zeitdauer von mindestens vier Jahren.

Zum Abschluss richtete der Richter noch ein sehr persönliches Wort an den Verurteilten. "Herr S., wir wünschen Ihnen viel Erfolg bei der Behandlung" im psychiatrischen Krankenhaus von Bad Schussenried. Man hoffe, dass er bei der Behandlung Fortschritte mache. Die letzten Worte des Richter waren: "Alles Gute."