Er ist gelernter Fernmeldehandwerker, seit 2011 ist er Landesinnenminister: Reinhold Gall wird ein guter Draht zur Polizei nachgesagt, Kritik an der Polizeireform wies er stets zurück. Foto: Seeger

Nach dem Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe ist Innenminister Gall unter Druck. Berufene Polizeichefs verlieren Posten.

Tuttlingen/Stuttgart - Eigentlich ist Reinhold Gall (SPD) einer aus der Kategorie Politiker, wie ihn die Menschen sich wünschen. Beliebt, bodenständig, bürgernah. Und das nicht nur in Wahlkampfzeiten. So kommt es regelmäßig vor, dass der Innenminister nach Feierabend in die Feuerwehruniform schlüpft und daheim mit den Floriansjüngern von Obersulm ausrückt.

Nun aber muss der 57-Jährige plötzlich in eigener Sache löschen. Denn das Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe, wonach das Innenministerium bei der Postenvergabe zur Polizeireform nicht sauber gearbeitet hat und deshalb ein Großteil der berufenen Polizeichefs und deren Stellvertreter seine Posten verliert, kommt für den Innenminister einem Großbrand gleich. Zwar beeilte sich Gall gestern, die juristische Schlappe zu relativieren und ließ mitteilen, "die Funktionsfähigkeit der Polizei bleibt gewährleistet". Aber in Regierungskreisen wird hinter vorgehaltener Hand eingeräumt, "dass die Panne nie hätte passieren dürfen".

Wieso konnte es aber so weit kommen? Grün-Rot hatte schon kurz nach der Übernahme der Regierungsgeschäfte im Mai 2011 angekündigt, der Polizei eine neue Struktur zu verpassen. Aus den 37 Polizeidirektionen und den 4 Landespolizeidirektionen in Stuttgart, Tübingen, Karlsruhe und Freiburg wolle man 12 Großpräsidien machen. Die Idee: Nicht jede Direktion muss mehr alles machen, dafür sollen sich die Großpräsidien über die Landkreisgrenzen hinaus die Aufgaben aufteilen. Unter dem Strich, so versprach Gall, wolle er 800 Polizisten mehr auf die Straße bringen. Was stets auffiel: Alle Bedenken bügelte der Minister ab.

Einer der Kritiker war Joachim Lautensack, Landeschef der Deutschen Polizeigewerkschaft. Der warnte wiederholt, die Reform werde die Schlagkraft der Polizei wegen aufgeblähter Strukturen und langer Wege schwächen, bewarb sich aber schließlich selbst auf mehrere Führungspositionen. Allein, das Innenministerium nahm ihn nicht, man habe die zwölf Chefs und deren Stellvertreter nach "Eignung, Befähigung und fachlicher Leistung" ausgewählt, teilte man Lautensack im Juli 2013 mit. Ob dies stimmt oder man den Kritiker Lautensack lieber nicht haben wollte, ist unklar. Klar hingegen ist: Beim damaligen Landespolizeipräsidenten Wolf Hamann und auch bei Innenminister Gall hätten alle Alarmglocken läuten müssen, als sich Lautensack bewarb – immerhin ist der seit zwölf Jahren Vorsitzender des Personalrats und kennt sich mit solchen Themen aus.

Nun ist es zu spät. Das Verwaltungsgericht Karlsruhe hat Lautensack recht gegeben. Für den ansonsten meist gut gelaunten Gall, der in Diskussionen schon mal gerne das Jacket auszieht und die Ärmel hochkrempelt, ist das ein herber Rückschlag in seiner politischen Laufbahn. Nicht der erste. Vor Wochen musste der gelernte Fernmeldehandwerker hinnehmen, dass er auch beim Thema Alkoholverkaufsverbot den Kürzeren zog. Eine Verschärfung der Gesetze komme nicht infrage, tönten die Grünen.

Nun also die Schlappe bei der Polizeireform. Ausgerechnet Galls Prestigeprojekt, das seit 1. Januar gilt. Zwar haben sich die Sorgen mancher Kritiker noch nicht bestätigt, dass wegen des Umzugs Tausender Beamter und des Einrichtens der neuen Büros mancher Einbrecher in diesen Tagen leichtes Spiel hat, weil die Polizei mehr mit sich als mit der Verbrecherjagd beschäftigt ist. Aber das Urteil gilt intern dann doch mehr als ein Strafzettel. Im Innenministerium jedenfalls glühten gestern die Drähte. Die Juristen brüteten über der einstweiligen Anordnung aus Karlsruhe, wonach die zwölf Präsidenten und ihre Stellvertreter bis zur endgültigen Entscheidung des Gerichts nicht mal kommissarisch amtieren dürfen.

Dass Karlsruhe im sogenannten Hauptsacheverfahren dasselbe entscheiden wird wie nun in der Eilsache, steht wohl außer Frage. Zwar versuchten Galls Experten gestern, das Urteil noch zu relativieren. Das Gericht habe ja "nicht das Auswahlverfahren insgesamt beanstandet", sondern vermisse nur Belege, dass die Personalentscheidungen im Sommer 2013 nach dem Prinzip einer Bestenauswahl geschehen sei. Man prüfe deshalb, "möglicherweise Unterlagen nachzureichen". Zur Wahrheit gehört auch, dass über den Gang in die nächste Instanz – eine Beschwerde beim Verwaltungsgerichtshof Mannheim – bereits nachgedacht wird.

Was für Gall besonders bitter ist: Fast alle Präsidenten und Vizechefs, über deren Berufung der Innenminister selbst mitentschieden hatte, müssen nun bis Ende Januar ihre Sachen zusammenpacken – oder brauchen die Umzugskisten gar nicht weiter auszuräumen. Nur vier Präsidenten (Stuttgart, Heilbronn, Freiburg und Ulm) dürfen im Amt bleiben, weil sie bereits vor einem Stichtag diese Funktion innehatten.

Polizeisprecher in Tuttlingen will sich nicht an Spekulationen beteiligen

Zumindest gestern Mittag waren auch Ulrich Schwarz, Polizeipräsident in Tuttlingen, und sein Stellvertreter Gerold Sigg noch im Amt. Schwarz "kommt weiter seiner Beamtenpflicht nach und erledigt die Aufgabe, die ihm übertragen worden ist" , erklärte der Tuttlinger Polizeisprecher Peter Mehler. Und dies so lange, bis vom Innenministerium etwas anderes verfügt werde. Der Polizeipräsident selbst möchte darüber hinaus keine Stellung beziehen. Das Präsidium umfasst die fünf Landkreise Rottweil, Zollernalb, Freudenstadt, Schwarzwald-Baar und Tuttlingen.

Die Situation nach der Karlsruher Gerichts-Entscheidung ist auch für die Polizei völlig neu. Schwarz stand bis Ende 2013 an der Spitze der Polizeidirektion Konstanz, Sigg leitete die Rottweiler Direktion. Nach der Reform gibt es beide nicht mehr. Was passiert also mit dem Polizeipräsidenten und seinem Vize, wenn sie ihre derzeitigen Ämter nicht behalten dürfen? An Spekulationen will sich der Tuttlinger Polizeisprecher nicht beteiligen.

Damit genug der Sache? Von wegen. Der Innenminister ahnt, dass das Urteil von Karlsruhe ein neues, bisher nicht beachtetes Problem in seinem Haus aufwirft. So wie die Polizeichefs ausgewählt worden seien, würden oftmals Spitzenpositionen im Land vergeben. Soll heißen: ohne Ausschreibung. Und wirklich: Seit Jahren ist es gängige Praxis, dass herausragende Positionen in der Landesverwaltung freihändig besetzt werden. Gut möglich also, dass die Schlappe bei der Postenvergabe zur Polizeireform eine grundsätzliche Debatte auslösen wird.

So wittert das auch Finanzminister Nils Schmid (SPD). Die Gerichtsentscheidung habe "Auswirkungen auf die Besetzungsverfahren im öffentlichen Dienst allgemein". Hans-Ulrich Sckerl (Grüne) riet CDU und FDP deshalb, "die Angelegenheit Polizeireform mit weniger Schaum vor dem Mund zu behandeln". Nach dem Motto: In eurer Regierungszeit lief das auch so.

Doch das alles wirkt wie ein Ablenkungsmanöver, um den Innenminister etwas aus der Schusslinie zu nehmen. Volker Stich, Landeschef des Beamtenbundes, legte den Finger in die Wunde: Die beförderten Beamten seien dafür belohnt worden, dass sie die Polizeireform mitgetragen hätten. FDP-Landtagsfraktionschef Hans-Ulrich Rülke machte klar, Gall dürfe sich nun keine weiteren Fehler erlauben, sonst sei "der Rücktritt unausweichlich". So weit mag der CDU-Innenexperte Thomas Blenke (Calw) noch nicht gehen. Gall müsse "das Schlamassel umgehend" aufklären, genau dafür brauche man den Minister: "Zumindest das Innenministerium hat ja noch eine Führung", so Blenke ketzerisch und mit Blick auf die zwölf Präsidien, die nun erst einmal aus der dritten Ebene geleitet werden müssen.

Gall selbst mochte sich gestern nicht weiter äußern. Eigentlich, so heißt es in seinem Umfeld, habe er "einen Riecher, wenn was nicht stimmt", sagt ein langjähriger Weggefährte. Warum der Hobbykoch die Brandgefahr am politischen Herd nicht kommen sah, weiß niemand. 

Info: Konsequenzen

Wen trifft’s? 

Das Verwaltungsgericht Karlsruhe hat alle Polizeipräsidenten- und Vize-Posten auf Eis gelegt, die mit dem neuen Amt befördert und mehr Geld verdienen würden. Das betrifft 9 von 15 Präsidenten.

Was heißt mehr?

Bisher wurden die Chefs der alten Polizeidirektionen in Besoldungsgruppe A 16 bezahlt. Je nach Stufe sind das zwischen 5240 und 6650 Euro Grundgehalt. Die neuen Präsidenten werden nach B 3, die Stellvertreter nach B 2 bezahlt. Damit erhöht sich das Grundgehalt auf 7340 beziehungsweise 6930 Euro. Die Rechnung des Innenministers: Wenn Polizeiräte in Ruhestand gehen, soll deren Stellen gestrichen werden.