Der Prozess wird in Tübingen verhandelt. Foto: M. Bernklau

Neun Wochen altes Kind soll durch Trauma schwerste Hirnschäden erlitten haben. Mann beteuert vor Gericht Unschuld.

Tübingen/Kreis Calw - Der Notarzt liefert nachts ein neun Wochen altes Mädchen aus dem Kreis Calw in die Tübinger Kinderklinik ein. Die lebensgefährlichen Hirnverletzungen des Säuglings sollen auf ein Schütteltrauma zurückgehen, ergeben anderntags die Untersuchungen. Jetzt steht der Vater vor dem Tübinger Landgericht.

Die Familie hält zusammen. Dabei lastet der Vorwurf von Staatsanwalt Martin Allmendinger schwer auf dem Vater, Ehemann, Sohn und Schwiegersohn. Mindestens zehnmal soll er in einer Februarnacht des Jahres 2017 sein neun Wochen zuvor geborenes zweites Töchterchen Marie so heftig geschüttelt haben, dass es schwerste Hirnschäden davontrug. Doch der 37-jährige Handwerker – zwei Verteidiger neben sich, die Angehörigen im Zuschauerraum des kleineren Tübinger Gerichtssaals – beteuert seine Unschuld.

Die Ärzte hatten den Fall ins Rollen gebracht. Wegen akuter Atemnot und zeitweiligen Atemstillständen war der Säugling mit dem Rettungswagen zunächst ins Böblinger Kreiskrankenhaus eingeliefert und nach einer ersten Untersuchung sofort in die Notaufnahme der Tübinger Uniklinik weitergeleitet worden. Dort musste eine lebensbedrohlich zunehmende Hirnschwellung durch eine Notoperation entschärft werden. Große Teile des kleinen Gehirns trugen aber dennoch irreversible Schäden davon.

Die Untersuchung des Radiologie-Professors am Folgetag, einem Sonntag, bestätigten die Einschätzung des Arztes in der neurologischen Notaufnahme: Mit hoher Wahrscheinlichkeit seien die Verletzungen und schweren Hirnschädigungen Folge eines Schütteltraumas. Den Zeitpunkt des Geschehens erweiterte der Professor als Zeuge allerdings vom späten Samstagabend, wovon die Anklage ausgeht, in beide Richtungen – theoretisch, wie er betonte. Allerspätestens zwei Stunden vor der computer-tomografischen Untersuchung und frühestens 46 Stunden zuvor müssten die Verletzungen verursacht worden sein. Demnach käme eventuell sogar noch der Vortag des Notfalls in Betracht, sogar die Zeit nach dem Notarzteinsatz.

Punkt 23 Uhr geht der Notruf des Vaters ein

Die Klinik verständigte nach den ersten Diagnosen des Wochenendes das Calwer Jugendamt und die diensthabende Jugendpflegerin wiederum die Kriminalpolizei. Auch die Eltern wurden in der Uniklinik mit dem dringenden Verdacht eines Schütteltraumas konfrontiert. Als Zeugin schilderte die Kinderärztin die Reaktion des Vaters: Das könne nicht sein, es sei doch nur er bei dem Kind gewesen.

Der Vater selbst schilderte die dramatischen Geschehnisse an jenem Samstagabend und die vorangegangenen Tage gleich nach seinen Angaben zur Person, zu seiner Ehe wie auch zu den Töchtern und zur Verwandtschaft zu Beginn der Verhandlung. Seine Beschreibungen eines eigentlich völlig ungetrübten jungen Familienglücks im Eigenheim bestätigten später die noch im Hause wohnende zeitweilige osteuropäische Au-Pair-Studentin wie auch die Kinderärztin der Familie weitgehend.

Er habe tagsüber mit drei anderen Männern ein Vordach am eigenen Haus angebracht, fuhr der Angeklagte fort. Abends sei er erstmals allein für die beiden Töchter zuständig gewesen, weil sich seine Frau nach dem gemeinsamen Zubettbringen der Töchter mit der früheren Au-Pair und einer Schwägerin für einen Kinoabend verabredet hatte.

Nachdem er gegen halb elf Uhr das Baby gehört und dann in der Küche das Fläschchen gerichtet hatte, habe er Marie schlaff und ohne merklichen Atem in ihrem Kinderbettchen vorgefunden, herausgenommen, und in großer Sorge telefonisch zunächst vergeblich seine Frau, mehrere Verwandte und dann die nicht weit entfernt wohnende Schwiegermutter zu verständigen versucht, die auch bald darauf eintraf. Die folgenden Ereignisse schilderten der ermittelnde Kripobeamte aus Vernehmungen und drei Ersthelfer übereinstimmend mit den Angaben des Vaters: Punkt 23 Uhr ist der Notruf des Vaters in der Leitstelle eingegangen mit allen nötigen Informationen über einen Säugling mit akuter Atemnot. Im Hintergrund ist nach der Aufzeichnung dann eine verzweifelt immer wieder den Namen des Kindes rufende Frau zu hören, die Großmutter.

Töchterchen entwickelt sich überraschend gut

Schon nach drei Minuten war ein benachbart wohnender Ersthelfer des DRK vor Ort, kurz danach auch der Rettungswagen und schließlich der Notarzt. Der Ersthelfer berichtete von einen zeitweiligen Atemstillstand des Babys, das dann auf dem auf dem Esstisch erstversorgt, auch beatmet und schließlich zum Transport in die Böblinger Klinik – das nähere Pforzheim hatte keine Kapazitäten – gerichtet wurde.

Zum Abschluss seiner Aussagen hatte der angeklagte Vater berichtet, dass es dem Töchterchen bald zwei Jahre nach dem dramatischen Geschehen so weit besser gehe, dass es gemeinsam mit der älteren Schwester einen Kindergarten mit Inklusionsbetreuung besuchen könne. Dass sich das Kind gegenüber den schlimmen Befürchtungen nach den ersten Diagnosen überraschend gut entwickle, bestätigten auch zwei behandelnde Medizinerinnen, darunter die Kinderärztin der Familie.

Der Prozess wird mit dem Gutachten des Tübinger Rechtsmediziners Professor Frank Wehner fortgesetzt sowie mit der Vernehmung einer Sozialpädagogin, die für das Kinderschutzteam der Tübinger Klinik engen Kontakt mit den Eltern während der Zeit hielt, als das Kind auf der Intensivstation und später in der neurologischen Abteilung der Kinderklinik behandelt wurde.