Ein Screenshot des Prügelvideos: Eine Nachrichtensprecherin von N24 berichtet über die Prügelattacke in Tübingen. Screenshot: N24

Clique verprügelt Mädchen in Tübingen. Video von Misshandlung kursiert auf Facebook und Youtube. Empörung im Netz. Mit Kommentar.  

Tübingen - "Du Opfer" ist ein beliebtes Schimpfwort auf deutschen Schulhöfen. Doch steckt leider manchmal mehr dahinter: In Tübingen haben Mädchen eine Gleichaltrige dazu gemacht - und das auch noch im Internet. Ein Mädchen tritt auf sein am Boden liegendes Opfer. Ein weiteres filmt die Szene und stellt sie ins Internet.

Einer 13-jährigen Schülerin aus Tübingen ist damit zweifach Leid zugefügt worden - körperlich wie seelisch. Denn weltweit können Internetnutzer mit ein paar Klicks ihre Misshandlung sehen. Das Internet ist in diesem Fall zum Pranger geworden. "Es ist ein beständiges Problem, das sich in den letzten Jahren auf jeden Fall nicht entschärft hat", sagt der Medienexperte des Landeskriminalamtes (LKA) in Stuttgart, Stefan Middendorf, mit Blick auf das Prügelvideo.

Eine Mädchenclique im Alter von 13 und 14 Jahren soll in der Universitätsstadt die Schülerin verprügelt und getreten haben. Ein Video der Gewaltattacke tauchte auf Youtube und Facebook auf. Die Motive für die Veröffentlichung erläutert der Kinder- und Jugendpsychotherapeut Martin Klett: "Die Täter wollen ihre Macht über das Opfer demonstrieren - möglicherweise, weil sie selbst zuvor Erfahrungen mit Ohnmacht gemacht haben."

Technische Möglichkeiten erleichtern die Schmähung

Anders als das Cybermobbing handelt es sich bei dem Gewaltausbruch der Mädchen aber eher um eine Ausnahme. "Das ist ein Ausreißer", meint der Münsteraner Kriminologe Klaus Boers. Insgesamt nimmt die Kriminalität von Mädchen ab.

Im Südwesten hat sich bei der schweren Körperverletzung der Anteil der weiblichen Tatverdächtigen unter 21 Jahren von 13,2 (2012) auf 12,6 Prozent im vergangenen Jahr vermindert. Eine erfreuliche Entwicklung, meint Middendorf, doch: "Dem Opfer hilft die Statistik allerdings nicht."

Die technischen Möglichkeiten erleichterten die digitale Schmähung, sagt Middendorf: "Dazu braucht man kein Computercrack zu sein. Heute ist jeder in der Lage, Täter zu sein, aber auch Opfer zu werden." Statistiken gibt es zu dem "allgegenwärtigen Phänomen" nicht, erklärt der LKA-Experte. Grund: Cybermobbing ist kein eigener Straftatbestand. Überdies sei das Dunkelfeld sehr groß: Denn Angst und Schuldgefühle verhinderten, dass die Opfer sich offenbaren.

Das Dunkelfeld spielt auch bei der Bewertung von Mädchengewalt eine Rolle, sagt Experte Boers. Denn kriminelle Mädchen würden weniger häufig angezeigt als Jungen. Das Alter der mutmaßlichen Schlägerinnen aus Tübingen sei allerdings symptomatisch: Jungen wie Mädchen begehen im 14. Lebensjahr die meisten Gewaltdelikte. "Danach wird es jedes Jahr deutlich weniger", sagt Boers.

Mädchen hörten früher auf, schon ab dem 15. Lebensjahr. Auch Intensivtäterinnen gibt es deutlich seltener als bei Jungen. Unter Mädchen liegt deren Anteil zwischen 0,1 und 0,9 Prozent, bei Jungen immerhin zwischen 0,5 und 3,4 Prozent. Typisch ist die Tübinger Attacke, weil sie in einer Gruppensituation geschah. Dies war 2013 bei 53,7 Prozent der Gewaltdelikte der unter 21-Jährigen im Südwesten der Fall.

Der Teenager muss mit Blessuren leben - und damit, dass sein Leid verbreitet wird

Für das verprügelte Mädchen in Tübingen beginnt eine schwere Zeit. Der leicht verletzte Teenager muss nicht nur mit den Blessuren zurechtkommen; das Mädchen wird auch damit leben lernen, dass sein Leid noch sehr lange im Internet kursiert.

Zu hoffen ist nun, dass Eltern, Freunde und Lehrer sowie möglicherweise Psychotherapeuten der Schülerin helfen, den Angriff zu verarbeiten. Ansonsten könne es zu sozialem Rückzug bis hin zu Schulverweigerung kommen, meint der Freiburger Experte Klett.

Die Polizei hat deshalb auch an die Nutzer sozialer Medien appelliert, das Prügel-Video nicht weiterzuverbreiten.

Kommentar: Eingreifen

Julia Gern

Der Schreck ist groß, die Kommentare sind wütend, Aufrufe zur Lynchjustiz folgen prompt – und trotzdem ist das Tübinger Prügel-Video nur eine Episode. So schlimm es ist: Soziale Netzwerke garantieren Schlägern plötzliche Aufmerksamkeit, die durch das nächste Schocker-Video verdrängt wird. Und dann? Dann gilt es, anzupacken. Denn neu sind solche Fälle nicht. Jonny K. starb am Berliner Alexanderplatz, Dominik Brunner, als er in München schlichtend eingreifen wollte.

Ansätze gibt es genug. Experten raten zu Gesprächen in Schulen. Aggressives Gruppendenken muss aufgebrochen werden, für Gewalt darf es keine Anerkennung geben, Lynchaufrufe sind selbst Straftaten. Zahlen zeigen zwar, dass Jugendgewalt abnimmt und die Gesellschaft sensibler reagiert. Nur: Warum hat in Tübingen niemand eingegriffen? Aus dem Umfeld, aus der Bürgergesellschaft?