Topaktuell ist das Stück von Max frisch umgesetzt worden. Foto: Grebe

Flecken im schneeweißen Andorra: Waldorfschüler spielen dramatische Parabel von Max Frisch. Von der ersten Szene an hängt Unheil in der Luft. Die Schlinge zieht sich immer weiter zu.

Daran ändert auch wenig, dass Barblin, die Geliebte der Hauptfigur Andri, die Häuser im Staat Andorra kurz vor dem St. Georgstag weißelt. „Wenn bloß kein Platzregen kommt“, bemerkt der Soldat, bevor er sich zwischen die Liebenden drängt mit roher Gewalt – ein Vorzeichen auf die drohende Besetzung Andorras durch die „Schwarzen“ und die Hinrichtung Andris in der Schlussszene.

Unter der Regie von Maria Radetzki hat die zwölfte Klasse der Freien Waldorfschule Balingen das weltbekannte Drama von Max Frisch, entstanden 1961, in zwei gut besuchten Abendaufführungen auf die Bühne gebracht – das Ergebnis von einer nur dreiwöchigen Probenzeit. Gemäß der Intention von Frisch, der das Geschehen in „Andorra“ historisch nicht fixieren wollte, sondern als „Modell“ versteht, spielt das Geschehen zwischen weißen Holzelementen.

Junge Schauspieler. Foto:  Grebe

In jedem der 1zwölf Bilder werden sie neu kombiniert. Mal verkörpern sie ein Wirtshaus, mal die Schwelle zu Barblins Kammer, mal den Altar der Kirche. Die kargen Räume einer atemlosen Parabel über Vorurteile und Schwarz-weiß-Denken.

Eines sieht der Zuschauer immer: einen weißen Pfahl mit Seilschlinge – Symbol der Verfolgung und Diskriminierung. Im Zentrum steht die Geschichte von einem jungen Mann, der mit einer Lüge aufwächst. Um sein Verhältnis mit einer Frau von den „Schwarzen da drüben“ zu verheimlichen, gibt Lehrer Can seinen Sohn Andri als Juden aus, den er vor der Verfolgung der Schwarzen gerettet habe.

Monologe an der Zeugenschranke

Obwohl die Andorraner ihren Staat als Hort des Friedens und der Toleranz bezeichnen, wächst Andri mit antijüdischen Vorurteilen auf, die ihn die ganze Handlung hindurch verfolgen. Mit dem Bildnis, das sich andere von ihm machen, identifiziert er sich so stark, dass er zuletzt nicht bereit ist, das Modell Jude wieder aufzugeben.

Er denke immer nur ans Geld. Deshalb will ihn der Tischler in den Verkauf stecken. Er habe kein Gemüt und könne eben kein Andorraner sein. So der Soldat, der seine nationalistischen Parolen gegen Andri richtet und zuletzt als unterwürfiger Gehilfe des „Judenschauers“ Andris Hinrichtung vollzieht. Besonders eindringlich in dem düsteren Geschehen sind die kurzen Monolog-Szenen an der „Zeugenschranke“.

Alle leugnen ihre Mitschuld

Frischs Idee, dass die Figuren aus der Handlung heraustreten und sich im Rückblick über ihre Schuld oder besser: ihre Unschuld äußern, wird in der Balinger Aufführung besonders eindrücklich umgesetzt. Von einem elektronischen Beat unterlegt leugnen Wirt, Pfarrer, Doktor übers Mikrofon eine Mitschuld am Geschehen. Dabei zeigt der große Screen im Hintergrund das Gesicht der jeweiligen Figur als Riesenporträt. Der Zuschauer hat somit die Möglichkeit, den Zeugen in die Augen zu schauen und damit den Wahrheitsgehalt des Gesagten zu überprüfen.

Schüler auf der Bühne. Foto:  Grebe

Als die Senora aus dem Nachbarland der Schwarzen, Andris verheimlichte Mutter, auftaucht, Lehrer Can zur Rede stellt und durch einen Steinwurf ums Leben kommt, zieht sich die Schlinge um den unschuldigen Andri allmählich zu. Das düstere Finale der Judenschau vor dem Pfahl im besetzten Andorra lässt Erinnerungen an den Holocaust wach werden – etwa wenn Barblin, schier um den Verstand gebracht und als „Judenhure“ beschimpft, wieder zu weißeln beginnt und auf der Suche nach Andri nur noch seine Schuhe findet, die er bei der Judenschau ausziehen musste.

Das Engagement der Spieler und ihre Bühnenpräsenz sorgten für einen packenden Theaterabend. Die Jugendlichen haben mit ihrem Stück ein Thema auf die Bühne gebracht, dass nichts an Aktualität eingebüßt hat.