„Minus 16“ – der Titel des Stücks spielt auf den Gefrierpunkt einer Flüssigkeit an, beim „Colours“-Auftakt geht es trotzdem heiß her. Foto: Regina Brocke

Ein Abend voller Herausforderungen: Mit „Mega Israel“ eröffnet Gauthier Dance im Theaterhaus das Tanzfestival Colours

Stuttgart - Eine Farbe fehlt im fröhlichen Colours-C auf dem Weg ins Theaterhaus: Schwarz. Doch davon bietet die Eröffnung des Festivals am Donnerstag mehr als genug. Mit Dunkelheit, finsterer Musik und einem Ensemble in schwarzen Anzügen malt Gauthier Dance zum Start des zweiwöchigen Tanzreigens ein unsichtbares I in die große Halle des Theaterhauses, I wie Israel. „Mega Israel“ heißt der Auftakt, der mit drei Choreografien des Altmeisters Ohad Naharin und seinen ehemaligen Tänzern Sharon Eyal und Hofesh Shechter das Wirken der in Tel Aviv beheimateten Batsheva Dance Company weit über Israel hinaus unter die Tanzlupe nimmt.

Kleines Land, große Spannungen: Das gilt für die politische Situation in Israel genauso wie für seine Tanzszene. Ohrstöpsel liegen für die Zuschauer bereit, doch dem laut wummernden Technosound, der die ersten beiden Stücke begleitet, kann sich keiner entziehen, er dringt in den Körper, bringt ihn zum Beben. Genau davon erzählen alle drei Stücke: von den Zumutungen und Herausforderungen unserer Zeit, die wollen, dass wir Position beziehen, statt uns zurückzulehnen. Hofesh Shechter schickt dafür in „Uprising“ sieben Krieger an die Tanzfront. Sharon Eyal dreht in „Killer Pig“ mit sechs auf halber Spitze an den Rand der Erschöpfung tänzelnden Damen die Schraube kräftig an und zeigt, was Frauen abverlangt wird. Und Ohad Naharin schließlich gelingt das feine Wunder, dass er in seinem Stück „Minus 16“ von frostiger Unmenschlichkeit erzählt – und den Abend doch als heißes Fest enden lässt.

Für Ohad Naharin liegt die universelle Kraft des Tanzes darin, dass er ein Miteinander möglich macht. Gaga heißt die von ihm entwickelte Technik, die das Bewusstsein dafür nicht nur bei Tänzern schärft. In Naharins Sinn ein bisschen Gaga sind am Colours-Eröffnungsabend eigentlich alle, vor allem die, die zu Beginn das Wort ergreifen, also Veranstalter und Förderer von Gauthier Dance wie etwa OB Fritz Kuhn als Vertreter der Stadt Stuttgart. Die verbindende Kraft des Tanzes „in einer Welt, in der das Trennende Konjunktur hat“, beschwört der Theaterhaus-Chef Werner Schretzmeier. Franz Reiner, Vorstandsvorsitzender der Mercedes-Bank, bringt die Stichworte Vielfalt und Toleranz ins Spiel.

„Die Welt wäre besser, wenn alle tanzen würden“

Kann man von Israel lernen? Am Morgen vor der Premiere haben wir bei Ohad Naharin, der seit 1990 die Batsheva Dance Company leitet, nachgefragt. Der leise, nachdenkliche Künstler ist sich sicher, dass man vom Tanzen lernen kann. „Die Welt wäre besser, wenn alle tanzen würden“, sagt er, um einzuschränken: „Tanz, wie ich ihn meine: der einen wahrnehmen lässt, dass man nicht im Mittelpunkt steht, der einem hilft, Dinge loszulassen, Anstrengung mit Freude zu verbinden und Schwächen einzugestehen.“ Das sind die positiven Kräfte, die vielleicht irgendwann die negativen dominieren. „Zerstören ist einfach, dazu braucht man kein Talent“, sagt Naharin. „Aber um etwas aufzubauen, dazu braucht man Talent.“ Das ist es wohl auch, was Tanz aus Israel derzeit so attraktiv macht: dass er die Kraft hat, ohne Rückhalt einer klassischen Tradition, aber auch nicht gebremst von ihr, Neues zu wagen.

Gehen Umbrüche ohne Gewalt? „Uprising“ probt den Aufstand tänzerisch. Am Ende reckt einer aus dem Haufen der sechs Männer ein rotes Fähnchen in die Höhe. Schon davor war Shechters Stück, das den Erfolg seiner eigenen Kompanie begründete, eine einzige Kriegserklärung: Jede hingehaltene Hand, jede Umarmung endet im Kampf, wie man auch bei der Beschreibung dieses in beigen Cargo-Hosen getanzten Stücks schnell bei kriegerischem Vokabular landet. „Uprising“ zeigt Gewalt und ihre Opfer und vor allem Tanz von eindringlicher Wucht. Durch laute Musik, abrupte Wechsel von Grell zu Dunkel springt die Aggression von der Bühne in den Saal. Darum geht es „Uprising“ wohl auch, das 2006 vor dem Terror in London entstand und ihn doch vorwegnimmt: als Mahnmal einer Zukunft, in der Gegensätze die Gesellschaft spalten.

In eine ebenso befremdliche Zeit dringt Sharon Eyals „Killer Pig“ vor. Wie insektenartige Aliens bewegen sich ihre sechs Tänzerinnen, hautfarbene Trikots umgeben sie wie eine zweite Haut. Ihre Bewegungen sind minimal, eher ein Pulsieren wechselnder Körperteile, als drohe bei mehr die Hülle zu reißen. Mit hämmerndem Sound und Bewegungen, die insistieren, erinnert „Killer Pig“ an die Zeit von Techno- und Ecstasy-Rausch. Doch Eyal will nicht einfach Zuschauer und Tänzerinnen an den Rand der Erschöpfung bringen. Ausbrüche einzelner, fast klassischer Ballett-Mutationen wirken wie eine Kampfansage ans verhalten tänzelnde Kollektiv. „Gut? Das ist mehr als gut!“ Was Ohad Naharin über Gauthiers Tänzer sagt, mit denen er einen Tag lang an „Minus 16“ gefeilt hat, gilt für alle drei Stücke des Abends – und wird vom Jubel im Saal unterstrichen.

„Colours“ macht den Stuttgartern Beine

Der gilt nach drei heißen Stunden auch den 16 erstaunlich bühnenversierten Damen, die Gauthier Dance für dieses Fest aus dem Publikum auf die Bühne holt. Am Ende toben alle in bester Gaga-Manier dort, wo in der Pause Luke Prunty wunderbar, aber einsam gegen die Leere antanzte. Als seine Kollegen endlich auftauchen, im Stuhlkreis singen und Kleider werfen, ist wieder einer außen vor und zappelt sich ab. Auch im zentralen Pas de deux zu Vivaldis „Stabat Mater“ geht es um Gefühle, die Form annehmen. Diese Sublimierung, wenn etwas in einen anderen Zustand übergeht, wenn aus Minus Plus wird und umgekehrt, ist Thema von „Minus 16“, dessen Titel auf den Gefrierpunkt einer Flüssigkeit anspielt.

Wie es sich anfühlt, zwischen blutigen Herzen auf dem Tisch von bizarren Mitessern zu stehen, kann man in der Installation „Whist“ erproben: Den virtuellen Tanz-Ausflug in ein Haus voller geheimnisvoller Bewohner hat die Kompanie A&E an diesem Wochenende im Rathaus aufgebaut. „Wir wollen Theaterbesucher aus den Sesseln und junge Menschen zum Tanz bringen“, sagen die Macher Aoi Nakamura und Esteban Fourmi. Bereits am ersten Wochenende macht Colours Stuttgart Beine.