Lina Maniatopoulos beim Besuch ihrer einstigen Heimat, dem Cannstatter Wasen: Sie ist 93 Jahre alt und immer noch energiegeladen. Foto: Michele Danze

Ihr ganzes Leben hat Lina Maniatopoulos auf Rummelplätzen verbracht. Mit 93 ist sie nun im wohlverdienten Ruhestand. Doch weil man Schausteller immer mit Leib und Seele ist, schaut sie hin und wieder auf dem Wasen vorbei – ihrer zweiten Heimat. Eine Begegnung auf dem Stuttgarter Frühlingsfest.

Stuttgart - Die alte Konzertorgel spielt und gibt ihr Bestes. Mit ihren dutzenden Pfeifen und den kunstvoll geschnitzten Holzfiguren, die sich drehen und ehrwürdig winken, ist der Schaustellerwagen auf dem Historischen Wasen ein echter Hingucker. Ein rund 100 Jahre altes Stück aus der Vergangenheit, das angesichts der dröhnenden und blinkenden Fahrgeschäfte gegenüber nicht von dieser Welt zu sein scheint. Lina Maniatopoulos lacht, sie wippt vergnügt mit dem Kopf, hebt die Hände in die Luft, als wolle sie tanzen. Erinnerungen werden wach an diesem Ort am Eingang des Stuttgarter Frühlingsfest, an dem einige ihrer Kollegen Fundstücke aus alter Zeit zusammengetragen haben.

Die Orgeln, der Wohnwagen, die Zugmaschinen, die Boxautos, die Karussellteile, die Fots und nicht zuletzt die Holzpferde versetzen Lina Maniatopoulos in eine andere Zeit. Als sie sieben Jahre alt war, flog Charles Lindbergh von New York nach Paris, Reichspräsident Paul von Hindenburg feierte seinen 80. Geburtstag, der Film Metropolis von Fritz Lang wird erstmals gezeigt, der Nürburgring wird eingeweiht, und Lina Maniatopolous schafft auf dem Masen. Wie es seit jeher die Kinder in Schaustellerfamilien getan haben, sobald sie alt genug waren, um mit anzupacken. Ihre Eltern betrieben auf dem Cannstatter Wasen ein Springpferdekarussell. „Da war so eine Kurbelwelle dran – das Pferd ist richtig gesprungen!“, schwärmt die 93-Jährige und lässt ihre Hände eine imaginäre Stange entlanggleiten. Fünf Pfennige kostete damals eine Fahrt. Sie half mit, wo sie konnte; hielt kleinere Kinder fest, wenn sie auf den Pferden Platz nahmen. Wie es sich für ein Schaustellerkind gehört, reiste sie mit ihren Eltern quer durch Deutschland, wechselte ständig die Schule.

Neuanfang nach 1945 trieb bisweilen kuriose Blüten

An einem Tag Ende der 1930er, erinnert sie sich, stand sie als junge Frau auf dem Wasen, als Adolf Hitler über die Mercedesstraße fuhr und alle die Arme hoben. Ein paar Jahre später brannte Stuttgart, brannte Cannstatt. „Die Leute hatten danach nichts mehr“, sagt sie. Die Menschen zersägten eine Achterbahn, um Brennholz zu bekommen – keiner hatte die Fahrgeschäfte auf dem Wasen mehr abgebaut, weil alle im Krieg waren. Ihr Mann, der ebenfalls aus einer Schaustellerfamilie stammte, gehörte zu jenen, die nicht wiederkamen.

Der Neuanfang nach 1945 war mühsam – und trieb bisweilen kuriose Blüten. „Damals war es verboten, an den Buden mit Munition zu schießen“, erinnert sie sich. Aus der Asche ihres zerstörten Karussells barg der Vater ein paar wenige erhaltene Teile und ließ ein neues bauen – ohne Pferde. Ein bescheidenes Modell, dafür zeitgemäß, mit einem Feuerwehrauto, einer Straßenbahn, Motorrädern.

Die damals 25-Jährige machte sich mit einem kleinen Stand selbstständig. Mit Kaugummis und selbst gemachten Zuckerstangen versuchte sie sich über Wasser zu halten. Mittlerweile hatte sie ein zweites Mal geheiratet, einen Mann aus einer Zirkusfamilie. Ein paar Jahre später, um 1960, legte sich Lina Maniatopoulos eine Teufelskutsche zu, eine Art Achterbahn. „Aber die Fahrgeschäfte waren so schnell wieder out“, sagt sie. Ständig musste sie sich ein neues anschaffen. Ob Flipper, Hurricane oder Calypso, sie erinnert sich noch an jedes einzelne. Ihren Raketensimulator habe sie später nach Saudi-Arabien verkauft, erzählt die Schaustellerin stolz. Die letzten 20 Jahre verkaufte sie Mandeln – „fleißiges Bienchen Mandelinchen“ nennen sie viele Kollegen auf dem Wasen noch heute.

„Als Schausteller hat man ein hartes Leben“

Wenn die 93-Jährige über die alten Zeiten redet, wird sie wehmütig. Früher seien fast nur Schausteller aus Stuttgart auf dem Wasen gewesen, sagt sie. Heute gebe es viel mehr Konkurrenz. Auch das Publikum erkennt sie manchmal nicht so recht wieder. „Ich bin schon etwas sprachlos: Seit etwa zehn Jahren gehen die Leute fast nur noch ins Bierzelt“, klagt sie. „Die Schausteller dürfen alles schön beleuchten, aber nicht mehr ihre Geschäfte machen.“ Früher habe es für die Freizeit eben nur den Wasen gegeben, heute könne das Angebot viele Kinder kaum noch begeistern, vermutet sie.

Doch auch die „Schausteller-Dynastien“, wie Maniatopoulos die alteingesessenen Familien nennt, sind im Wandel. Während ihre Tochter noch einen holländischen „Riesenradpapst“ heiratete und die Tradition jahrzehntelang weiterführte, wurden ihre beiden Enkel Banker und Steuerberater. „Als Schausteller hat man ein hartes Leben“, sagt sie. „Da muss man viel Lust zum Arbeiten haben, das ist nichts für müde Leute.“

Das Schaustellerdasein ist mehr als ein Beruf, es packt einen mit Leib und Seele. Doch irgendwann war es auch Lina Maniatopoulos genug. 2006, im Alter von stolzen 86 Jahren, gab sie ihren Wagen auf dem Wasen ab. Ihren Stand auf dem Weihnachtsmarkt führt seitdem ihre Großnichte weiter, die auch Inhaberin des stadtbekannten Eiscafés Pinguin am Eugensplatz ist.

Wenn man die energische Ruheständlerin so sieht, würde sich wohl kaum jemand darüber wundern, wenn sie auch heute noch an ihrem Mandelwagen stünde. In einer ruhigen Minute würde sie dann vielleicht den Orgelklängen in ihrer Erinnerung lauschen. Und daran denken, wie es früher auf dem Cannstatter Wasen ausgehen hat.