Für Eva-Mitarbeiterin Heidemarie Augustin ist ihr Ehrenamt eine Bereicherung. Foto: Leif Piechowski

Johanna Renz von der Caritas-Tagesstätte interpretiert die Weihnachtsgeschichte neu: Sie wünscht sich für Heiligabend ein modernes Bethlehem in Stuttgart – also offene Häuser für alle.

Johanna Renz von der Caritas-Tagesstätte interpretiert die Weihnachtsgeschichte neu: Sie wünscht sich für Heiligabend ein modernes Bethlehem in Stuttgart – also offene Häuser für alle.

Stuttgart - Klaus möchte im Moment nicht gestört werden. Er behängt gerade den Christbaum in der Wärmestube der Evangelischen Gesellschaft (Eva) in der Büchsenstraße mit lilafarbenen Kugeln und Strohsternen. Dann muss er eine Pause machen. Gesundheitlich geht es ihm nicht gut, er ist seit vier Jahren Dialysepatient.

Obdachlos ist der Rentner nicht, er hat sogar eine ganz schöne Wohnung. „Aber da bin ich allein. Mit meiner Familie ist alles kaputtgegangen“, sagt der 69-Jährige. Wie es dazu kam, dass er aus dem Leben, aus Beziehungen und aus dem Job katapultiert wurde, darüber will er nicht reden. „Früher hatte ich ein bürgerliches Leben und konnte mir die schönen Dinge leisten“, sagt Klaus. Er sitzt an einem der sechs voll besetzten Tische, die mit kleinen Windlichtern und Tannenzweigen geschmückt sind. Zwei Männer spielen Schach und freuen sich wie Klaus über ein Stück Stollen. Sonst muss man für ein süßes Stückchen 20 Cent bezahlen. Eine Tasse Kaffee kostet 30 Cent. Tee ist umsonst.

Immer wieder bringen freundliche Mitmenschen in diesen Tagen Plätzchen, Geschenke und Kuchen vorbei. Das Essen steht zwar in der Wärmestube im Zentrum, doch erfahren die Besucher hier Hilfe in allen Lebenslagen. Auf der Theke liegt eine Liste, in der man sich zum Duschen eintragen kann. Heute ist Gesangstunde. Bis zu 70 Gäste kommen derzeit täglich. In der Weihnachtszeit spüren sie erst recht, dass sie isoliert sind. „Ich habe das Gefühl, dass die Besucher unruhiger, aufgewühlter und verletzlicher sind“, sagt Karin Volland, die Leiterin der Eva-Tagesstätte. Vor Weihnachten suchen sie vor allem Wärme und Gesellschaft.

99 Prozent sind auf staatliche Hilfe angewiesen. 90 Prozent sind Männer ab 45 Jahren aufwärts. Mathilde, die ihren richtigen Namen nicht verraten will, kommt viermal pro Woche. Sie zählt zu den wenigen Frauen, die das Angebot der Wärmestube in Anspruch nehmen. Mathilde ist seit Jahren arbeitslos, obwohl sie zwei Berufe gelernt hat und kämpft zudem mit einer schweren Lungenerkrankung. Sie sagt, was sie denkt, mustert misstrauisch vier Jugendliche aus Ungarn, die erstmals da sind und unverfroren Forderungen stellen. Und sie übt Kritik am System. Als sie in Hartz IV abgerutscht sei, hätten die Freunde noch eine Weile gefragt, ob sie mitkommen wolle, ins Theater oder ins Kino. Die Antwort war stets dieselbe. „Ich habe kein Geld dafür.“ Irgendwann fragte niemand mehr.

„Die Menschen sind dankbar. Aber die jüngeren Leute hadern schon“

Für die 59-Jährige ist die Wärmestube deshalb ein Ort gegen die Vereinsamung – gegen die soziale Kälte. Und nicht nur an Weihnachten. „Hier nimmt man die Menschen, wie sie sind, ohne Vorurteile, geht liebevoll mit ihnen um und setzt gleichzeitig Grenzen“, sagt Mathilde.

Heidemarie Augustin hilft seit Sommer immer dienstags ehrenamtlich für dreieinhalb Stunden. Die pensionierte Lehrerin musste sich erst einfinden in die Regeln der Einrichtung. „Da willst du jemand auch mal umsonst eine Tasse Kaffee geben. Aber das wäre den anderen gegenüber nicht fair“, sagt sie. Sie hat sogar Rommé spielen gelernt und empfindet die Gespräche beim Ausschank als Bereicherung. An der Not konnte sie nicht vorbeigehen. Aber sie tut sich auch heute noch schwer, die Lebensbereiche zu trennen, hat fast ein schlechtes Gewissen, wenn sie nach dem Job wieder in ihre „Glitzerwelt“ abtaucht. „Die Menschen sind dankbar. Aber die jüngeren Leute hadern schon“, sagt Heidemarie Augustin.

Diese Erfahrung macht auch Johanna Renz, die seit 1992 die Caritas-Tagesstätte in der Olgastraße leitet. Am 26. Dezember bietet sie den Besuchern ein Weihnachtsfrühstück an. Sie hat viele Menschen kommen und gehen sehen, Geschichten von gescheiterten Lebensentwürfen, Not, Sucht und Einsamkeit gehört. Sie beklagt, dass die Menschen, denen es gut geht, nicht das ganze Jahr über für Herzschmerz und Verzweiflung anderer Leute empfänglich sind. Im Oktober kommenden Jahres geht sie in den Ruhestand und wünscht sich gerade für Heiligabend in Stuttgart eine Art modernes Bethlehem, eine neue Interpretation der Weihnachtsgeschichte, bei der alle Kirchen in der Stadt „offene Häuser“ für Arme wären und nicht nur die üblichen Institutionen. Sie sorgt sich darum, dass diese Menschen nicht mehr als Bürger betrachtet werden. „Sie sind nicht weniger wert, nur weil sie weniger haben“, sagt sie. Die Caritas-Mitarbeiterin hat auch Fälle erlebt, in denen Menschen bewusst aus der Bürgerlichkeit geflüchtet und freiwillig die Nähe von Obdachlosen gesucht haben.

Klaus kommt auch hin und wieder in ihre Tagesstätte. Er ist nicht verbittert, hat sich mit seiner Situation arrangiert. Jetzt freut er sich auf Heiligabend, wo es im Stall der Eva Würstchen und Kartoffelsalat gibt.