Sozial- und Integrationsminister Manfred Lucha (Grüne) Foto: Graner

Landessozialminister Manfred Lucha darüber, was sich nach organisiertem Missbrauch von Jungen ändern muss.

Stuttgart - Eine Mutter vergewaltigt ihr Kind mit ihrem Partner, beteiligt sich jahrelang an schlimmstem Missbrauch - so geschehen im badischen Staufen. Was ist schief gelaufen und welche Konsequenzen zieht Sozialminister Lucha?

Die Vorgänge sorgten bundesweit für Entsetzen: Ein Paar aus dem badischen Staufen hat einen heute Zehnjährigen mehr als zwei Jahre vergewaltigt und zur Prostitution gezwungen. Das Kind wurde über das Internet an Männer verkauft. Die Mutter wurde zu zwölfeinhalb Jahren Haft verurteilt, ihr Partner zu zwölf Jahren Haft mit Sicherungsverwahrung. Das Kind war vom Jugendamt in Obhut genommen, aber von Gerichten zurück zur Mutter und ihrem Partner geschickt worden. Landessozialminister Manne Lucha (Grüne) erläutert im Interview mit der Deutschen Presse-Agentur dpa, welche Konsequenzen aus seiner Sicht aus dem Fall zu ziehen sind.

Der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, hat die Landesregierung zu einer umfassenden Aufarbeitung der Vorgänge in Staufen aufgefordert. Da schwingt der Vorwurf mit, es geschehe noch nicht genug. Was sagen Sie dazu?

Wir haben Herrn Rörig zu uns eingeladen, um ihm unsere Aktivitäten zur Aufarbeitung zu schildern. Ich glaube, dass ein Bundesbeauftragter die Gesamtsituation in einem Bundesland gar nicht im Detail überblickt. Wir haben eine interministerielle Arbeitsgruppe gebildet, in der wir aufarbeiten, warum die unterschiedlichen Instanzen dieses furchtbare Verbrechen nicht verhindern konnten. Die Arbeitsgruppe wird die Strukturen der Verfahren und Zuständigkeiten intensiv ausleuchten und dort, wo nötig, Korrekturen anregen, um die Kommunikation und Zusammenarbeit zwischen den Behörden und Gerichten zu optimieren. Inzwischen haben alle 46 Jugendämter im Land das Angebot erhalten, ihre Strukturen und Prozesse im Rahmen einer Evaluierung wissenschaftlich begutachten zu lassen. Die Beratung der ersten 23 Jugendämter beginnt nach der Sommerpause.

Was ist für Sie persönlich die wichtigste Erkenntnis aus den Vorgängen in Staufen?

Antwort: Ich fordere eine systematische Zusammenarbeit zwischen Polizei, Justiz, Schulsozialarbeit, Jugendhilfe und Verbänden. Wer hat Hinweise auf einen möglichen Missbrauch, auf Gewalt und Vernachlässigung von Kindern? Wie lassen sich diese Hinweise verifizieren? Die Jugendhilfe ist eine weisungsfreie Pflichtaufgabe der Kommunen. Die Dienst- und Fachaufsicht über die Jugendämter liegt bei den Oberbürgermeistern und Landräten. Die Rechtsaufsicht liegt beim Regierungspräsidium. Wir brauchen hier ein intensives Zusammenspiel der unterschiedlichen Akteure.

Muss man diese Strukturen grundsätzlich hinterfragen?

Wir müssen neu definieren, was Fachaufsicht und was Rechtsaufsicht heißt. Wir müssen alle näher zusammenrücken. Ich gehe davon aus, dass jeder das Beste für ein Kind will. Aber wir brauchen mehr Transparenz der Handelnden. Man muss das Mehraugenprinzip noch viel offensiver praktizieren. Jeder muss von dem anderen wissen dürfen. Da werden wir möglicherweise auch datenschutzrechtlich nachsteuern müssen.

Innenminister Thomas Strobl (CDU) fordert höhere Strafen für Kindesmissbrauch. Bringen die aus Ihrer Sicht etwas?

Im Darknet im Internet bewegt sich eine für uns alle unfassbare Gruppe an Tätern. Ich weiß nicht, ob diese Menschen bei ihrem perfidem Handeln überhaupt an das Strafmaß denken, das ihnen droht. Wir haben die besten Gesetze der Welt, und dennoch werden wir nicht verhindern können, dass Menschen furchtbare Straftaten begehen. Wir müssen uns genauer vor Augen halten, was in Staufen passiert ist: Eine Mutter hat für ihr Kind gekämpft - aber nicht aus Fürsorge, sondern aus der kriminellen Energie heraus, ihr Kind an Sextäter verkaufen zu wollen. So etwas haben wir offensichtlich überhaupt nicht auf unserer Vorstellungs-DNA, das passt nicht in unser Familienbild. Insgesamt muss das gesellschaftliche Bewusstsein der Verletzlichkeit von Kindern und Jugendlichen deutlich gestärkt werden. Alle müssen wachsam sein.

Könnte die von CDU-Innenpolitikern geforderte Wiedereinführung der Vorratsdatenspeicherung helfen, Tätern im Darknet schneller auf die Schliche zu kommen?

Die Polizei erzielt mit den ihnen derzeit zur Verfügung stehenden Mitteln große Erfolge. Dazu, ob die Vorratsdatenspeicherung etwas bringen kann, ist sicher eine differenzierte Debatte nötig.

Info: Verfahren und Urteile im Missbrauchsfall Staufen

Freiburg/Staufen - Im Zusammenhang mit dem jahrelangen Missbrauch eines kleinen Jungen in Staufen bei Freiburg hat es acht Anklagen gegeben. Neben der Mutter und deren Lebensgefährten standen in diesem Jahr sechs Männer vor Gericht. Die Urteile:

19. April: Zehn Jahre Haft mit anschließender Sicherungsverwahrung und 12 500 Euro Schmerzensgeld für das Opfer, so das Urteil des Freiburger Landgerichts gegen einen 41-jährigen Deutschen.

16. Mai: Zu acht Jahren Haft und 12 500 Euro Schmerzensgeld wird ein Bundeswehrsoldat in Freiburg verurteilt. Er legt - wie die Staatsanwaltschaft - Revision ein.

5. Juni: Sieben Jahre und drei Monate Haft verhängt das Kieler Landgericht gegen einen 32-Jährigen aus Neumünster, der seine Tochter vergewaltigt hatte. Er flog im Zuge der Freiburger Ermittlungen auf, am Missbrauch des Jungen in Staufen war der Mann nicht beteiligt.

29. Juni: Acht Jahre Haft und Sicherungsverwahrung erwarten einen 44 Jahre alten Elektriker aus Schleswig-Holstein laut Urteil des Landgerichts Karlsruhe. Der einschlägig Vorbestrafte tappte in die Falle, bevor es zum Missbrauch kam.

2. Juli: Neun Jahre Gefängnis, Sicherungsverwahrung und 14 000 Euro Schmerzensgeld verhängt das Freiburger Gericht gegen einen 37-Jährigen aus der Schweiz. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig, der Schweizer geht in Revision.

6. August: Zehn Jahre muss ein 33-jähriger Spanier in Haft, zudem stehen dem Opfer 18 000 Euro Schmerzensgeld zu. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Die Freiburger Staatsanwaltschaft hatte zwölf Jahre Gefängnis und unter Vorbehalt Sicherungsverwahrung gefordert. Um die Sicherheitsverwahrung durchzusetzen, legte die Staatsanwaltschaft Revision ein, das Urteil ist daher noch nicht rechtskräftig.

7. August: Die Mutter des Jungen und ihr Lebensgefährte werden zu langen Haftstrafen verurteilt. Die 48 Jahre alte Frau wird vor dem Landgericht Freiburg zu zwölfeinhalb Jahren Haft verurteilt. Gegen den Partner, einen einschlägig vorbestraften 39-Jährigen, verhängen die Richter eine Strafe von zwölf Jahren Haft mit anschließender Sicherungsverwahrung. Die beiden Verurteilten sollen insgesamt 42 500 Euro Schmerzensgeld an den Jungen sowie an ein weiteres Opfer, ein kleines Mädchen, zahlen.

Die Mutter verzichtete noch im Gerichtssaal auf eine Revision, das Urteil gegen sie ist somit rechtskräftig. Der Lebensgefährte hingegen legte Rechtsmittel ein, das Urteil gegen ihn ist nicht rechtskräftig.