Bahn-Chef Rüdiger Grube nimmt zu 134 Fragen des Aufsichtsrats Stellung. Wie es derzeit am Stuttgarter Hauptbahnhof ausschaut, sehen Sie in unserer Fotostrecke. Foto: dpa

Der Aufsichtsrat der Bahn AG muss entscheiden, ob er Mehrkosten und Risiken von bis zu 2,3 Milliarden Euro bei Stuttgart 21 billigt. Wir zeigen Grundlagen der Entscheidung.  

Stuttgart/Berlin - Das Milliardenprojekt Stuttgart 21 wird um Milliarden teurer. Mit dieser schlechten Nachricht haben Bahn-Chef Rüdiger Grube und sein Technik-Vorstand Volker Kefer am 12. Dezmeber 2012 den Aufsichtsrat der Deutschen Bahn AG konfrontiert. Seitdem stehen die 20 Aufsichtsräte vor einer richtungweisenden Entscheidung: Stimmen sie dem Kurs von Grube und Kefer zu und stabilisieren damit das Projekt? Oder lehnen sie den Vorschlag des Bahn-Vorstands ab und leiten damit eine neue Diskussion um einen Ausstieg aus dem Projekt ein? 

In einem Katalog aus 134 Fragen haben die Aufsichtsräte ihre Kritik, ihre Bedenken und ihre Besorgnis wegen Stuttgart 21 zusammengefasst. Der Bahn-Vorstand musste diese Fragen bis zur vorigen Woche beantworten. Die Antworten sind eine wichtige Grundlage für die Entscheidung des Aufsichtsrats, die bei einer Sitzung vermutlich am 1. oder 5. März in Berlin fallen soll. Am Dienstag hat es dazu ein weiteres Arbeitsgespräch zwischen Aufsichtsrat und Vorstand in Berlin gegeben.

Der Fragenkatalog und die Antworten gelten bei der Bahn als Geheimsache. Nach Recherchen der Stuttgarter Nachrichten lassen sich die zentralen Antworten des Konzerns trotzdem darstellen. Sie zeigen, dass der Konflikt um das Milliardenprojekt viele Facetten hat – und ein Ausstieg ähnlich risikoreich sein kann wie das Festhalten an Stuttgart 21.

Weshalb kostet Stuttgart 21 plötzlich 1,1 Milliarden Euro mehr?

Weshalb kostet Stuttgart 21 plötzlich 1,1 Milliarden Euro mehr?

Ende 2011 wurden bei der Vergabe für Bauaufträge in zwei Teilbereichen von Stuttgart 21 „Budgetabweichungen“ gegenüber der Kalkulation verzeichnet, schreibt der Bahn-Vorstand in seinen Antworten auf den Fragenkatalog des Aufsichtsrats. Im April 2012 hätten 40 externe Experten im Auftrag des Vorstands mit der Arbeit an einem Sechs-Punkte-Programm für „Gegensteuerungsmaßnahmen“ begonnen. Am 5. Juni 2012 wird der Bahn-Vorstand zudem über „Schwachstellen im Projektmanagement und in der Projektsteuerung“ informiert. Dass S 21 um 1,1 Milliarden Euro teurer wird, weiß der Vorstand nach eigenem Bekunden mit Gewissheit seit Oktober 2012.

Der Vorstand schlägt vor, dass die Bahn die 1,1 Milliarden Euro übernimmt. Das würde den Finanzierungsrahmen – mitsamt einem Risikopuffer von 930 Millionen Euro – von derzeit 4,5 auf 5,6 Milliarden Euro erhöhen. „Nach sorgfältiger Abwägung der Handlungsoptionen“ habe man sich für die Kostenübernahme entschieden“, so der Vorstand. Eine „gerichtliche Klärung der Beteiligung“ des Landes Baden-Württemberg, der Stadt Stuttgart und des Regionalverbands an den 1,1 Milliarden Euro erscheine hingegen „wenig Erfolg versprechend“. Als konkrete Ursachen für die Mehrkosten führt der Vorstand vier Hauptgründe an. Erster Grund: Das Projekt sei durch eine „hohe Vorspannung belastet“. Die Annahme von Bahn-Chef Grube von Ende 2009, man könne rund 891 Millionen Euro „Optimierungsansätze“ erzielen, also Geld sparen, hat sich also nicht in allen Punkten erfüllt. Zweiter Grund: Fehler bei der Planung. Eine lange Liste von Bauarbeiten ist in der bisherigen Kalkulation schlicht „nichtberücksichtigt“, also durch Fehlplanungen vergessen worden. Allein diese Fehler addieren sich auf 613 Millionen Euro. Dritter Grund: Fehlkalkulationen bei der Vergabe. Diese Position, bei der es Überschneidungen mit dem ersten Punkt gibt, beläuft sich laut Vorstand auf insgesamt 491 Millionen Euro. Ein „Rechenfehler“ zum Beispiel schlägt mit knapp 40 Millionen Euro zu Buche. Vierter Grund: Künftige Risiken, vor allem im Tunnelbau.

Bei den 1,1 Milliarden Euro Mehrkosten unterstellt der Vorstand, dass es bei S 21 zu „keinen weiteren Zeitverzügen“ kommt und das Projekt bis Ende 2021 in Betrieb geht. Bisher wurde Ende 2020 als Termin für die Fertigstellung genannt.

Woher kommen die drohenden Risiken für zusätzliche Mehrkosten von bis zu 1,2 Milliarden Euro?

Woher kommen die drohenden Risiken für zusätzliche Mehrkosten von bis zu 1,2 Milliarden Euro?

Die Antworten des Vorstands auf diesen Fragenkomplex des Aufsichtsrats fallen im Vergleich zu seinen Antworten zu den Mehrkosten relativ dürftig aus.

Die 1,2 Milliarden Euro setzen sich laut Vorstand aus 300 Millionen Euro für „zusätzliche Leistungen“, 190 Millionen Euro für „Risiken durch Dritte“, 300 Millionen Euro durch „Spezifikationsänderungen“ sowie 400 Millionen Euro „aufgrund behördlicher Auflagen und behördlicher Prozesse“ zusammen.

Die letztgenannten 400 Millionen Euro würden laut Vorstand anfallen, falls sich die ausstehenden Genehmigungsverfahren um 32 Monate verzögern – wie bei den bisherigen Verfahren – und S 21 deshalb erst Ende 2024 in Betrieb gehen kann. Für diese Zeitverzögerungen macht der Vorstand indirekt das Eisenbahn-Bundesamt und damit letztlich die Bundesregierung verantwortlich.

Zu den 1,2 Milliarden Euro bleiben allerdings viele Fragen offen: Laut Vorstand sind zum Beispiel sowohl die 300 Millionen als auch die 400 Millionen Euro „ohne konkrete Indikation durch Grobschätzung prognostiziert“ worden. „Diese Sachverhalte“, argumentiert die Bahn-Spitze, könnten „nur gemeinsam mit den Projektpartnern optimiert und gelöst“ werden. Sollten die Risiken von 1,2 Milliarden Euro tatsächlich eintreten, müssten die Mehrkosten „ entweder durch den Verursacher oder gemeinsam durch die Projektpartner“ getragen werden. Der Vorstand schlägt deshalb vor, gegebenenfalls eine Beteiligung der Partner an den durch externe Faktoren begründeten Mehrkosten von 1,2 Milliarden Euro „auf Grundlage der Sprechklausel einzufordern“. Falls das nicht gelinge, könnte der neue Finanzierungsrahmen von 5,6 Milliarden Euro „überschritten werden“, warnt der Vorstand den Aufsichtsrat. Sprich: Am Ende könnte auch die Bahn die 1,2 Milliarden Euro aus eigener Tasche bezahlen müssen.

Wie will der Vorstand die zusätzlichen Mehrkosten und Kostenrisiken finanzieren?

Wie will der Vorstand die zusätzlichen Mehrkosten und Kostenrisiken finanzieren?

Der Vorstand will die neuen Belastungen durch zusätzliche Umschuldungen beziehungsweise einen verzögerten Schuldenabbau finanzieren.

Nach bisheriger Kalkulation beträgt der Eigenanteil der Deutschen Bahn am Projekt Stuttgart 21 derzeit 1,711 Milliarden Euro. Die höchsten jährlichen Investitionen fallen in den Jahren 2015 bis 2018 an. Unter Einbeziehung der 1,1 Milliarden Euro Mehrkosten würde der Eigenmittelanteil des bundeseigenen Unternehmens laut Vorstand auf 2,847 Milliarden Euro steigen. Sollten auch die 1,2 Milliarden Euro Kostenrisiken eintreffen, könnte dieser Anteil auf bis zu 3,528 Milliarden Euro steigen.

Die Netto-Finanzschulden des Konzerns belaufen sich laut Vorstand auf 16,8 Milliarden Euro (Stand: 2012). Im Jahr 2017 sollten diese Schulden eigentlich auf 15,7 Milliarden Euro abgebaut sein. Mit den 1,1 Milliarden Euro Mehrkosten würde sich der vorgesehene Schuldenabbau verzögern, so dass 2017 noch 16,5 Milliarden Euro Schulden bestehen würden. Falls auch die 1,2 Milliarden Euro Risiken eintreten, wären es noch 400 Millionen Euro Schulden mehr.

Noch kostspieliger käme den Konzern allerdings ein Ausstieg aus S 21 zum jetzigen Zeitpunkt: Laut Vorstand würden die Netto-Finanzschulden damit schlagartig um mehr als zwei Milliarden Euro steigen; der Schuldenstand 2017 würde über 17 Milliarden Euro betragen und läge damit sogar über dem heutigen Niveau. Ein sofortiger Ausstieg hätte mittelfristig „die negativsten Auswirkungen“, warnt der Vorstand. Es sei auch fraglich, ob der Konzern die zusätzliche nötige Kreditaufnahme am Geldmarkt überhaupt realisieren könne. Auch das Rating der Bahn AG könnte nach Einschätzung des Vorstands „unter Druck“ kommen.

In der ursprünglichen Kalkulation zu S 21 hat die Bahn eine Verzinsung des von ihr selbst investierten Kapitals von 7,5 Prozent angesetzt. Falls sie die 1,1 Milliarden Euro Mehrkosten übernimmt, sinkt diese Eigenkapitalverzinsung laut Vorstand bei Inbetriebnahme des Projekts Ende 2012 auf 1,7 Prozent. Die Grenze der Wirtschaftlichkeit wäre demnach bei Mehrkosten von 1,87 Milliarden Euro erreicht. Falls die Bahn auch die weiteren Risiken von 1,2 Milliarden Euro komplett übernehmen müsste, stünde am Ende eine negative Verzinsung.

Was würde die Bahn ein sofortiger Ausstieg aus dem Projekt kosten?

Was würde die Bahn ein sofortiger Ausstieg aus dem Projekt kosten?

Der Bahn-Vorstand warnt in seinen Antworten auf die Fragen des Aufsichtsrat mehrfach und nachdrücklich vor einem sofortigen Ausstieg aus Stuttgart 21.

Die absehbaren Mehrkosten von 1,1 Milliarden Euro sind „nicht als wichtiger Grund für eine außerordentliche Kündigung“ der S-21-Finanzierungs- und Realisierungsverträge zu sehen, betont der Vorstand. Die Frist für eine reguläre Kündigung, wie sie die Verträge für jeden Projektpartner vorsehen, ist Ende 2009 abgelaufen. Ein einseitiger Ausstieg zum jetzigen Zeitpunkt sei daher mit einem „Vertragsbruch“ gleichzusetzen, warnt der Vorstand.Ein Ausstieg wäre demnach mit allen Projektpartnern „nur gemeinsam möglich“, wobei die Aufteilung der Kosten neu verhandelt werden müsste.

Die Kosten für einen sofortigen Ausstieg aus dem Projekt beziffert der Vorstand auf zwei Milliarden Euro. Das Szenario baut auf einer Wirksamkeit der Kündigung zum 1. Januar 2013 auf. Dabei wird unterstellt, dass es „keine Schadenersatzklagen“ gegenüber der Bahn gibt außer Forderungen aus Bau- und Planungsverträgen und dass die bereits abgerissenen Flügel des Hauptbahnhofs nicht wieder aufgebaut werden müssen.

Die größte Position bei den Ausstiegskosten sind 795,3 Millionen Euro für die Grundstücke, welche die Bahn der Stadt Stuttgart 2001 im Vorgriff auf die Realisierung von S 21 bereits verkauft hat. 2009/2010 hat die Bahn die Rückstellungen für dieses Geschäft aufgelöst und rund 700 Millionen Euro dem Gewinn zugeführt. Sprich: Das Geld für die Grundstücke wurde ausgegeben. Vor dem Verkauf standen die rund 110 Hektar Betriebsflächen in den Büchern der Bahn mit einem Wert von 25 Millionen Euro.

Weitere hohe Ausstiegskosten drohen laut Vorstand durch Schadenersatzforderungen der Bauindustrie (486 Millionen Euro), durch die Rückzahlung von Baukostenzuschüssen (330 Millionen Euro) oder durch die Kosten für die Wiederherstellung des alten Bauzustands im Bereich Hauptbahnhof (130 Millionen Euro). Die verlorenen Planungskosten belaufen sich auf rund 50 Millionen Euro.

Mögliche Kosten für Alternativprojekte seien „nicht Teil der aufgeführten Ausstiegskosten“, erklärt der Vorstand. Auch wenn man am heutigen Bahnhofskonzept festhalten würde, stünden erhebliche Modernisierungs- und Sanierungskosten in Höhe von rund 1,4 Milliarden Euro (ohne Risikozuschläge) an. Der Vorstand beruft sich dabei auf Berechnungen aus dem Jahr 2011.

Hat der Vorstand Alternativen zu Stuttgart 21 geprüft?

Hat der Vorstand Alternativen zu Stuttgart 21 geprüft?

Alternativen und Varianten zu S 21 seien im Verlauf der langjährigen Planungen seit 1994 in Bezug auf „Realisierbarkeit, Trassenführung, Leistungsfähigkeit, Kosten und Termine“ geprüft worden, betont der Vorstand. Dabei habe man auch „Varianten mit Kopfbahnhof“ geprüft. Im Zuge der Genehmigungsverfahren seien 26 Hauptvarianten zum heutigen Projekt untersucht und bewertet worden. Zuletzt habe man 2011 die Planungsvariante S 21 der Beibehaltung des alten Kopfbahnhofs gegenübergestellt.

Ein Ausstieg aus S 21 und eine Alternativplanung würden vor allem viel Zeit und damit auch viel Geld kosten, betont der Vorstand: „Für eine Alternativplanung wäre unter Berücksichtigung des bisherigen Projektverlaufs mit einem Zeitbedarf von zehn Jahren zu rechnen.“ Zudem dürften auch die neuen Pläne bei den davon betroffenen Bürgern „voraussichtlich auch neue Widerstände auslösen“.

Der Vorstand betont auch, dass „für eine Alternativplanung auch eine neue Finanzierungsvereinbarung abgeschlossen werden müsste“. Es sei zu vermuten, dass eine solche Vereinbarung mit den heutigen Projektpartnern „schwierig“ sein dürfte. Auch die im Bau befindliche ICE-Strecke Wendlingen–Ulm wird ins Feld geführt. Zusammen mit S 21 würden die beiden Infrastrukturprojekte ihre „maximale Wirkung“ erzielen, so der Vorstand. Dagegen erlaube eine Anbindung der ICE-Strecke über das Neckar-Tal, also ohne S 21, „in der jetzigen Konstellation nur eine begrenzte Leistungsfähigkeit“.

Das Land Baden-Württemberg zahlt dem Bund einen festen Zuschuss von 950 Millionen Euro für den mit rund drei Milliarden Euro kalkulierten Bau der Strecke, damit sie zeitgleich mit S 21 in Betrieb gehen kann. Würde auf S 21 verzichtet und eine aufwendige Umplanung in Stuttgart gestartet, führe das zu „erheblichen Verzögerungen“, wodurch die geplante gleichzeitige Inbetriebnahme nicht mehr möglich sei, argumentiert der Vorstand. Das könne dazu führen, dass das Land seinen Zuschuss für die Strecke „eventuell“ streiche.

Wie steht die Bahn-Spitze grundsätzlich zu Stuttgart 21?

Wie steht die Bahn-Spitze grundsätzlich zu Stuttgart 21?

Diese Frage steht so nicht wörtlich im Fragenkatalog des Aufsichtsrats. Doch sie zieht sich wie ein roter Faden durch die 134 Fragen des Kontrollgremiums und die Antworten des Bahn-Vorstands .

Aus unternehmerischer Sicht müsse man an Stuttgart 21 festhalten, so der Vorstand. Ein Ausstieg sei juristisch heikel und die Konsequenzen zu teuer. Auch die verkehrlichen und städtebaulichen Vorteile des Projekts gelten für ihn nach wie vor.

Was der Bahn.-Spitze aber offenkundig Sorgen bereitet, sind veränderten politischen Rahmenbedingungen: Als man die Verträge zu Stuttgart 21 im April 2009 unterzeichnet und die Ausstiegsoption im Dezember 2009 nicht genutzt habe, sei die weitere Entwicklung des Projekts und „insbesondere die politische Entwicklung“ nicht abzusehen gewesen, betont der Vorstand. Auf die Frage eines Aufsichtsrats, ob S 21 auch unter den heutigen, veränderten Umständen noch im Interesse der Deutschen Bahn sei, lautet die Antwort des Vorstands: „Unter den gegenwärtigen Randbedingungen würde man ein solches Projekt heute nicht beginnen, aber fortführen.“

Auf Landesebene zählten CDU, FDP und „weite Teile“ der SPD zu den Befürwortern, so der Vorstand. Als „erklärte Gegner“ verstünden sich die Grünen und die Linke. Auf die Frage eines Aufsichtsrats nach der Bundestagswahl heißt es: „Aussagen über mögliche Auswirkungen der Bundestagswahl 2013 auf Stuttgart 21 können zum jetzigen Zeitpunkt nicht getroffen werden.“

Alles in allem erwartet der Vorstand, dass durch die Übernahme der 1,1 Milliarden Euro Mehrkosten „eine Endlosdiskussion“ um Stuttgart 21 vermieden wird und „eine Befriedung“ des Projekts eintritt. Damit könne man auch den „Imageschaden der Bahn begrenzen“, argumentiert die Bahn-Spitze. Denn letztlich gehe es jetzt beim Umgang mit dem heiklen Thema Stuttgart 21 auch um die Reputation des Konzerns.