Polizisten patrouillieren über den geschlossenen Weihnachtsmarkt in Straßburg. Er bleibt auch am Donnerstag zu. Foto: Gollnow

Einheimische und Touristen erleben den Tag nach dem Horror. Grenzkontrollen verstärken sich.

Straßburg/Kehl - Straßburg gilt den Elsässern als die Hauptstadt des Advents, das "Herz der Weihnachtszeit". Viele Jahre haben seine Bürger voller Stolz Gäste aus ganz Europa in ihrer weihnachtlich geschmückten Stadt willkommen geheißen. Hunderttausende folgten der Einladung, trotz immer schärferer Sicherheitsvorkehrungen. Das Herz der weihnachtlichen Vorfreude wurde nun blutig getroffen. Eine Stadt, eine ganze Region befindet sich in Schockstarre.

Sirenen in der Ferne

Am Morgen nach dem Terroranschlag bleiben die Weihnachtsmärkte auf den Plätzen der Innenstadt geschlossen. Polizei und Militär patrouillieren auf den Straßen. Es sind nur wenige Menschen, aber viele Kamera-Teams unterwegs. Immer wieder sind Sirenen in der Ferne zu hören. Teile der Innenstadt sind noch großräumig mit Absperrband gesichert. An der Kreuzung Rue du Saumon und Rue des Chandelles sind die Spuren des Verbrechens noch zu erkennen: Große Mengen Blut sammeln sich in Pfützen auf der Straße. Der Bereich wird durch viele schwerbewaffnete Polizisten gesperrt. Manche Passanten gehen vorbei, andere werden langsamer, bleiben erschrocken stehen. Orientierungslose Fußgänger werden von Polizisten umgeleitet.

Leblose Menschen auf den Straßen

Läuft man durch Straßburg, so dauert es nicht lange, bis man jemanden trifft, der bei den Ereignissen dabei war. Jill Riches aus England ist eine von ihnen. Die Übersetzerin sucht am Tag nach dem Anschlag einen Platz, um eine weiße Rose niederzulegen. Dienstagabend sei sie mit einer Freundin in einem Restaurant festgesessen – mitten im Geschehen. Lautes Knallen und Schreie seien ihnen aufgefallen, ihre US-Freundin konnte die Geräusche als Schüsse identifizieren. Die Angestellten des Restaurants rieten den Gästen, im Inneren zu warten, später war der Weg über den Kleberplatz von Polizisten gesperrt. Die umliegenden Restaurantbesitzer hätten sich per Handy ausgetauscht. So seien ihnen auch Bilder von leblosen Menschen auf den Straßen zu Gesicht gekommen. "Da wussten wir, dass es ernst war", berichtet die 64-Jährige, immer noch ganz bewegt. Erst spät in der Nacht sei es möglich gewesen, die Innenstadt zu verlassen.

"Innerhalb von fünf Minuten war die Straße leer, und jede Menge Polizei rückte an", berichtet ein Gastronom

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Ausgangssperre auch für Evelyne Gebhardt (SPD)

Am späten Vormittag sind die gesperrten Bereiche wieder zugänglich, viele der Geschäfte in den betroffenen Straßen sind aber noch geschlossen. Verhalten bewegen sich Einheimische und Touristen durch die Stätten des vergangenen Horrors. Pierre Braesch steht vor seinem Schnellimbiss und weist Gäste bedauernd ab. Sie würden erst später am Mittag öffnen, vertröstet er. Keine 50 Meter weg von einem der Tatorte befindet sich sein Laden.

"Ich bin geschockt", erzählt Braesch unserer Zeitung. Dienstagnacht sei er da gewesen, als es geschah. Schüsse habe er gehört, dann Menschen an seinem Fenster vorbeirennen sehen. "Innerhalb von fünf Minuten war die Straße leer, und jede Menge Polizei rückte an", berichtet der Gastronom, während er nervös seine Zigarette raucht. "Ich habe immer noch Angst", gesteht er und berichtet davon, wie er sich mit seinen Angestellten in seinem Laden einschloss. Für ihn steht jedoch fest: "Wir öffnen heute noch."

Unmittelbar miterlebt hat auch die Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments, Evelyne Gebhardt (SPD), die Ereignisse am Dienstagabend in Straßburg. Da in dieser Woche die EU-Parlamentarier in Straßburg zum letzten Mal in diesem Jahr tagen, war Gebhardt in der elsässischen Stadt zugegen. "Als ich erfuhr, was passiert ist, war ich sehr erschrocken. Mein Hotel ist in der Nähe des Tatorts. Viele Menschen flüchteten in die Lobby in meinem Hotel, sie haben Zuflucht dort gefunden. Dies wurde mir später mitgeteilt. Es war eine bedrückende Stimmung an diesem Abend in der Stadt", sagt die deutsch-französische EU-Politikerin auf Anfrage unserer Zeitung. Sie selbst war bis 2.30 Uhr im unweit gelegenen EU-Parlament regelrecht eingeschlossen. Es herrschte wegen der angespannten Sicherheitslage eine Ausgangssperre, da der Täter noch im Stadtgebiet unterwegs war, sagt sie. Ihre für Mittwoch eingeplante Besuchergruppe hat sie "wegen der Ereignisse" für diese Woche abgesagt.

Probleme bei der Integration

Auf die Frage, warum immer wieder Frankreich im Fadenkreuz von islamistischen Terroristen stehe, verweist sie auf die großen sozialen Probleme bei der Integration von Einwanderern aus Nordafrika. "Viele von den jungen Männer aus Nordafrika haben keine Zukunftsperspektiven und sind somit schneller anfällig, kriminell zu werden. In der französischen Integrationsarbeit ist daher noch viel nachzuholen, in Deutschland ist dagegen sehr viel mehr gemacht worden", sagt die 64   Jahre alte Gebhardt. Der mutmaßliche Täter Chérif C. stammt wurde in Straßburg geboren; seine Vorfahren sollen aus Algerien stammen.

Der 15-jährige Tom Hauser ist einer von den Schülern, die gestern trotz allem zur Schule gegangen sind – am Collège Saint Etienne in Straßburg sind insgesamt 250 von 1000 Schülern zum Unterricht erschienen. "Es muss weitergehen, wir lassen uns von so jemandem nicht klein bekommen", sagt Tom unserer Zeitung. Der Rektor habe eine Ansprache gehalten und dabei beruhigende Worte gefunden. Auch die Lehrer hätten bis auf ein paar Ausnahmen entgegen des Stundenplans immer wieder mit den Schülern über das Geschehene gesprochen. "Wir haben uns gegenseitig Mut gemacht. Miteinander reden ist essenziell", meint Tom. Es sei eine ruhige gedämpfte Stimmung, in Panik sei niemand verfallen. Mutter Carolin Hauser war zunächst skeptisch: "Ich habe mich mit anderen Eltern abgesprochen, und Tom musste mir versprechen, sich stündlich zu melden." Etwas später fühlte sie sich entspannter, denn so viel Sicherheit wie gestern durch die verstärkte Polizei sei an anderen Tagen nicht gegeben.

Die Ereignisse von Dienstag ziehen ihre Kreise weit über die auf einer Insel der Ill gelegene Innenstadt hinaus. Die Tram von Kehl nach Straßburg, Zeichen der deutsch-französischen Freundschaft, kommt aufgrund der Grenzkontrollen aus dem Takt. In Kehl werden nur die vorderen Tramtüren geöffnet, um die Personenkontrolle durch die Polizei zu erleichtern.

In Offenburg wird die "nächste Stufe" des Sicherheitskonzepts ausgerufen: Stimmung ist aber "entspannt"

Anti-Terror Poller in Innenstadt

Dutzende Polizisten sind rund um den Kehler Bahnhof im Einsatz. Aufgrund der aktuellen Ereignisse ergibt sich auch für die Beamten eine ungewohnte Situation: Grenzkontrollen an den Rheinübergängen um Straßburg. Aufgrund der intensiven Fahndungsmaßnahmen im Straßen- und Schienenverkehr kommt es laut Bundespolizei zu Verzögerungen beim Grenzübertritt. Auch im Kern der Grenzstadt wurde reagiert. Zwar ist der Kehler Weihnachtsmarkt bereits zu Ende, in der Fußgängerzone habe man aber dennoch Anti-Terror-Poller aufgestellt, berichtet Annette Lipowsky von der Stabsstelle des Oberbürgermeisters. So soll ein mögliches Befahren der Einkaufsstraße wie im Dezember 2016 beim Anschlag auf den Breitscheidplatz in Berlin verhindert werden.

In Offenburg, etwa 20 Kilometer südöstlich von Straßburg gelegen, zieht indes die Stadt als Veranstalter des dortigen Weihnachtsmarktes Konsequenzen aus dem Anschlag in der elsässischen Grenzstadt. Man habe die "nächste Stufe" des Sicherheitskonzepts ausgerufen, erklärt Stefan Schürlein, Chef des Stadtmarketings. Da der Platz sowieso mit dem Auto nicht zugänglich sei, habe man zwar keine Anti-Terror-Poller, dafür unterstütze man nun mit mehr privaten Sicherheitsleuten als zuvor die Polizei. Grundsätzlich sei die Stimmung bei Besuchern und Beschickern allerdings "sehr entspannt".