Mit Gefangenen-Transport allein ist die Aufgabe für Polizeibeamte nicht erledigt. Foto: Seeger

Psychologe klärt auf. "Man verliert das Vertrauen in die Menschen."

Freiburg/Staufen -   Isaac Bermejo (54) ist promovierter Psychologe und Psychotherapeut an der Uniklinik Freiburg. Er leitet dort den Supervisions- und Coachingdienst für Beschäftigte. Davor war der in Hamburg geborene Familienvater für Caritas International tätig und betreute hier auch Helfer in Flüchtlingslagern in Albanien während des Kosovo-Krieges.

Wer die juristische Aufarbeitung des Staufener Missbrauchsfalles durch das Freiburger Landgericht dieser Tage verfolgt (wo sich am Donnerstag ein 33-Jähriger aus Barcelona verantworten muss), der kann sich dem Horror nicht entziehen, den ein zehn Jahre alter Junge aus Staufen (Kreis Breisgau-Hochschwarzwald) über mehr als zwei Jahre hinweg durchleben musste. Welche Folgen die detaillierte Beschäftigung mit Vergewaltigungsvideos und verstörenden Aussagen der Täter in dem Fall haben kann und wie etwa Polizeibeamte mit der Belastung durch diese Arbeit umgehen können, haben wir im Gespräch mit dem Freiburger Experten Isaac Bermejo ergründet.

Herr Bermejo, Sie beraten und unterstützen Polizeiermittler, die sich mit dem Staufener Missbrauchsfall befassen müssen. Mit welchen Anliegen kommen die zu Ihnen?

Die Videos, Fotos und Texte versetzen die Beamten in eine Situation, in der sie den Missbrauch quasi miterleben. Sie müssen alle möglichen Details erfassen, mit denen die Täter überführt und verurteilt werden können. Mit der Zeit kann man das nicht abschalten und vergessen, und man sieht die Welt mit anderen Augen. Ein Beispiel: Ich sitze in der Tram und sehe, wie ein Kind von einem Elternteil wegen irgendetwas gescholten wird. Normalerweise denke ich dann vielleicht: Ach, das arme Kind, muss man denn nun so hart mit ihm umgehen? Für einen der Ermittler im Missbrauchsfall könnte der Vorfall aber eine ganz andere Qualität bekommen. Die Bilder überlagern sich. Man fragt sich, ob da nun schon ein Übergriff stattfindet. Die eigenen Werte geraten ins Wanken. Und dann ist es auch noch so, dass diese Bilder immer dann in einem aufsteigen, wenn man sie am wenigsten brauchen kann. Das ist typisch, wenn man Traumatisches erlebt hat. Ein Geruch oder ein Geräusch reicht, und es läuft ein Film ab.

Einer der Justizbeamten, die die Angeklagten ins Gericht bringen, hat dieser Tage am Rande der Verhandlung berichtet, dass ihn der Vorfall so sehr belastet, dass er und seine Frau sich nicht trauen, einen Babysitter für ihre Kinder zu suchen.

Das ist genau das, was ich meinte: Man verliert das Vertrauen in die Menschen. Man ändert sein eigenes Verhalten. Und ärgert sich am Ende darüber: Warum sollte ich mein Vertrauen und mein Wertesystem ändern, wenn da einige Menschen Dinge tun, die außerhalb jeder menschlichen Nachvollziehbarkeit liegen? Die Justizbeamten sind dabei in einer anderen Situation als Ermittler oder Richter und Schöffen: Sie sind nicht direkt mit der Aufarbeitung und Bewertung befasst, sondern sorgen indirekt dafür, dass die Verhandlung korrekt verläuft. Und diese Indirektheit kann zu einem Gefühl der Hilflosigkeit führen.

Das, was man da erfährt, kann man kaum wieder vergessen, oder?

Nein, vergessen kann man das nie. Aber das ist auch nicht das Ziel einer Verarbeitung des Erlebten. Damit würde man ja einen Teil des eigenen Erlebens verdrängen. Man muss es vielmehr ins eigene Leben integrieren. Als Teil der eigenen Lebensgeschichte. Wie andere positive oder negative Erfahrungen, die man macht und nicht verleugnen kann. Wichtig ist, dass man sich bewusst macht, dass zum Beispiel die Arbeit mit diesem Beweismaterial nicht alles ist, was einen als Person ausmacht. Es ist Teil meiner Geschichte, aber das bin nicht ich.

Also muss man sich bewusst machen, dass diese schrecklichen Dinge im Grunde nichts mit einem selbst zu tun haben?

Genau. Man muss lernen, zwischen dem Erleben und dem, was man selbst daraus macht zu differenzieren. Da hat man Möglichkeiten.

Wie machen das Ermittler, Richter oder Staatsanwälte? Was geben Sie denen auf den Weg mit?

Ich versuche zu helfen, Bewältigungsstrategien zu erkennen, anzupassen und zu nutzen. Das klappt zunächst nicht immer so einfach. Weil eben nicht normal ist, was man da sieht und somit miterlebt. Je nach Person und Situation kann das also ganz unterschiedlich laufen. Wenn ich als Ermittler noch mitten in der Ermittlungsarbeit stecke, muss ich Strategien für Pausen und Auszeiten finden. Man kann nicht stundenlang solche Dinge anschauen. Man muss mit Kollegen reden können, die dieses Erlebnis teilen müssen. Und mit denen muss man auch über andere, alltägliche Dinge reden können. Das ist erlaubt, und es ist wichtig. Es fällt manchem Polizisten in so einer Lage schwer: Er bearbeitet diesen Fall. Wie kann er sich da vor sich selbst erlauben, über seine schönen Erlebnisse vom letzten Wochenende mit Freunden oder Familie zu reden? Darüber hinaus muss man auch Strategien finden, wie man außerhalb der Arbeitszeit Energie schöpfen und den Alltag genießen kann. Man muss sich bewusst machen, dass man niemandem hilft, wenn man sich selbst keine Freude mehr außerhalb der Arbeit gönnt. In einem dritten Schritt gilt es dann, das Erlebte einzuordnen. Man muss sehen: die anderen Kollegen haben auch ein Problem mit dieser Arbeit. Das ist normal.

Wie gut klappt das?

Das ist schwierig. Je früher man sich mit der eigenen Belastung auseinandersetzt, desto besser kann man mit dieser umgehen. Aber jeder kommt auch an Grenzen. Die muss man für sich auch erkennen. Man muss die Signale der Psyche und des Körpers wahrnehmen, um sozusagen mit einem positiven Gefühl rechtzeitig gegenzusteuern. Wenn man das nicht tut, kommt irgendwann der Punkt, an dem man nichts mehr schaffen kann. Das ist dann natürlich eine sehr negative Erfahrung. Ich arbeite da gern mit Bildern: Keiner würde sein Auto stets im roten Drehzahlbereich und ohne Ölwechsel fahren. Im Job tun wir aber oft genau das: bis zur Verausgabung und darüber hinaus arbeiten. Darauf muss man achten. Und das betrifft jeden, der seine Arbeit mit Hingabe macht und mit dem Leid anderer Menschen konfrontiert wird. Es ist eine Gefahr in allen helfenden Berufen und für alle, die für andere Menschen da sein wollen.

Was sind die Folgen?

Es gibt die Gefahr von negativen gesundheitlichen Folgen. Der oft genannte Burn-out, Depressionen, eine posttraumatische Belastungsstörung, Probleme in der Familie, Suchtprobleme. Um so etwas zu verhindern, muss man den Ermittlern frühzeitig professionelle Angebote machen. Meine Aufgabe ist es, das nachzuempfinden, um die Ermittler bei der Bewältigung zu unterstützen. Ich habe danach wiederum meine eigenen Verarbeitungsstrategien für solche Belastungen.