Jugendamt und Justiz hatten das Kind bei seiner Mutter gelassen. Foto: Ralf Deckert

Knapp 15 Strafanzeigen von Bürgern. Kleiner Junge war Peinigern schutzlos ausgeliefert.

Staufen/Freiburg - Im Missbrauchsfall Staufen bei Freiburg stehen Jugendamt und Justiz in der Kritik. Sie hatten ein Kind bei seiner Mutter gelassen, obwohl es Anzeichen für eine Gefahr für den Jungen gab. Aus dem Fall wollen sie Lehren ziehen. Doch liefern sie auch konkrete Antworten?

Der kleine Junge war seinen Peinigern schutzlos ausgeliefert. Er wurde im Darknet angeboten und von ihm unbekannten Männern jahrelang vergewaltigt. Von der Mutter konnte er keine Hilfe erwarten, sagen Ermittler. Die 48-Jährige und ihr 39 Jahre alter Lebensgefährte, die derzeit in Freiburg vor Gericht stehen, waren an den Verbrechen demnach aktiv beteiligt. Sie gelten als Drahtzieher und Haupttäter. Hinzu kommt mögliches Behörden- und Justizversagen. Das Jugendamt und zwei beteiligte Gerichte sehen sich mit Kritik konfrontiert - und nun auch mit mehreren Strafanzeigen.

Anzeichen für eine Gefährdung

"Uns liegen knapp 15 Strafanzeigen von Bürgern vor", sagt der Sprecher der Freiburger Staatsanwaltschaft, Michael Mächtel. Sie richteten sich gegen Verantwortliche des Jugendamtes und Richter an den zwei beteiligten Gerichten. Diese hatten entschieden, dass der heute neun Jahre alte Junge bei seiner Familie bleiben soll - obwohl es Anzeichen für eine Gefährdung gab. Die Bürger, die Anzeige erstattet haben, werfen den Verantwortlichen unter anderem Rechtsbeugung und Beihilfe vor. Die Staatsanwaltschaft prüfe nun, ob es in dem Fall strafrechtlich relevante Versäumnisse gab.

Auch das Landgericht Freiburg bemüht sich um Aufklärung. Der Prozess gegen die Mutter des Kindes und ihren Lebensgefährten, beides Deutsche, hat vor einer Woche begonnen. Er wird an diesem Montag fortgesetzt. Die Mutter hat bislang geschwiegen. Sie hat angekündigt, in dem Prozess auszusagen - unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Ein Urteil wird es frühestens Mitte Juli geben.

Mann ist wegen schweren Kindesmissbrauchs vorbestraft

"Der Prozess verhandelt die Vorwürfe gegen die Mutter und ihren Lebensgefährten", erklärt Staatsanwältin Nikola Novak. Der Mann ist wegen schweren Kindesmissbrauchs vorbestraft, war kurz zuvor aus dem Gefängnis gekommen. Er durfte sich Kindern nicht nähern, keinen Kontakt zu Kindern haben und er stand unter so genannter Führungsaufsicht. Dennoch lebte er, wie er vor Gericht sagte, spätestens von Anfang 2015 an bis zu seiner Festnahme im Herbst 2017 mit der Frau und ihrem Sohn "wie eine Familie" zusammen.

Als die Anwesenheit des Mannes bei der Frau und ihrem Kind bekannt wurde, nahm das Jugendamt den Jungen Mitte März 2017 aus der Familie und alarmierte die Justiz. Diese schickte das Kind knapp einen Monat später zurück zur Mutter und untersagte dem laut Gericht mit einem Rückfallrisiko behafteten Mann, Kontakt zu dem Kind zu haben. Er und die Mutter hielten sich jedoch nicht an die Auflagen. Die Vergewaltigungsserie, die damals noch unentdeckt war, setzte sich fort. Mehrmals wöchentlich kam es zum Missbrauch, sagt der Mann.

Taten wurden "mit der Zeit häufiger und heftiger"

Die Taten, sagt Staatsanwältin Novak, wurden "mit der Zeit häufiger und heftiger". Erst ein anonymer Hinweis beendete das jahrelange Martyrium des Jungen, der inzwischen bei einer Pflegefamilie lebt. Seine Mutter sitzt, ebenso wie der Lebensgefährte und die sechs weiteren mutmaßlichen Täter, in Untersuchungshaft.

Kontrolliert wurden die vom Gericht verhängten Auflagen nicht. Justiz und Jugendamt machen sich dafür gegenseitig verantwortlich.

Beide, heißt es heute, vertrauten den Angaben der Mutter. In dem Verfahren wird sie von Jugendamt und Justiz "der blinde Fleck" genannt. Niemand hielt es für möglich, dass eine Mutter ihr eigenes Kind missbraucht und Männern zum Vergewaltigen überlässt.

Arbeitsgruppe soll klären, wie solche Fälle in Zukunft verhindert werden können

"Wir wollen aus diesem Fall Lehren ziehen", sagt die Sprecherin des Oberlandesgerichtes (OLG) Karlsruhe, Julia Kürz. Das OLG hatte, wie zuvor bereits das Amtsgericht Freiburg, entschieden, den Jungen nach seiner staatlichen Inobhutnahme zurück in die Familie zu schicken. Eine aus Richtern und Vertretern des Jugendamtes bestehende Arbeitsgruppe soll klären, wie solche Fälle in Zukunft verhindert werden können. Darauf setzt auch das Jugendamt, wie sein Sprecher sagt.

"Ziele sind eine bessere Kommunikation zwischen Polizei, Justiz und Jugendämtern, verbesserte Abläufe sowie die Frage von Kontrollen", sagt Richterin Kürz. Anfang Juli treffe sich die Arbeitsgruppe ein drittes Mal, Ende Juli sei mit dem Abschlussbericht zu rechnen.

Auch das Land arbeite an Aufklärung, sagt ein Sprecher des Sozialministeriums. Innen-, Justiz und Sozialministerium arbeiten daran gemeinsam, bis Ende Juli wollen sie Ergebnisse vorlegen.

Zudem komme bis Ende 2019 das landesweite Kinderschutzkonzept zum Tragen, das im vergangenen Dezember vorgelegt wurde. Darin verankert seien unter anderem Fortbildungen für Mitarbeiter von Jugendämtern.

"Wir wollen, gemeinsam mit dem Deutschen Jugendinstitut und den Kommunen, für alle Jugendämter im Land einheitliche Vorgehensweisen erarbeiten", sagt Sozialminister Manfred Lucha (Grüne). Ziel sei es, für Gefahren zu sensibilisieren und Kindesmissbrauch zu verhindern.