Sozialbürgermeisterin Isabel Fezer will aus den Sozialdaten Rückschlüsse ziehen. Foto: Lichtgut/Max Kovalenko

Für die Zukunft einer Stadt ist die Planung entscheidend. Sie muss sich an den Bedürfnissen und Defiziten ihrer Bewohner ausrichten. Die Basis dafür stellt der Sozialdatenatlas für Stuttgart zur Verfügung. Der jüngste seiner Art dokumentiert: Arm bleibt arm.

Stuttgart - Bei den Stadtpolitikern ist der neue Sozialdatenatlas unumstritten und wird hoch gelobt. Er erfasst für die Gesamtstadt und für einzelne Stadtteile, wie viele Menschen dort Arbeitslosengeld, Sozialgeld, Grundsicherung, Hilfe zum Lebensunterhalt und Wohngeld beziehen und wie viele Anspruch auf eine Bonuscard oder das Stuttgarter Sozialticket für den öffentlichen Nahverkehr haben. Außerdem vergleicht der jetzt aufgelegte Atlas erstmals die Daten mit jenen von vor zwei Jahren.

„Damit haben wir eine Grundlage, um Probleme zu sichten“, sagt Hannes Rockenbauch (SÖS/Linke-plus). Doch ganz so einfach ist das nicht.

„Bei manchen Zahlen fehlt mir die Interpretation“, sagt der Stadtrat. Im Vergleich zum Vorgänger-Datenatlas sei nämlich nicht unbedingt klar, „ob es den Leuten in einem Viertel allgemein besser geht als vor zwei Jahren oder ob die Armen dort abgewandert sind, eine Gentrifizierung stattfand“ und das Viertel deshalb mit besseren Werten punkten könne.

Statistik hat ihre Tücken

Ein Beispiel: Das Gebiet Mönchhalde im Norden, unterhalb des Killesbergs und nordwestlich der Heilbronner Straße, beherbergte Ende 2009 noch 40 Empfänger von Arbeitslosengeld II (Alg II) und Sozialgeld. Ende 2011 waren es 83, mehr als doppelt so viele. Trotzdem hat sich die Quote dort von 6,4 auf 3,9 Prozent verbessert, das Gebiet wird als weniger arm eingestuft als noch vor zwei Jahren. Grund dafür ist ein statistisches Detail: Auch die Zahl der Bewohner hat sich dort mehr als verdreifacht, der Anteil der Hilfeempfänger fällt jetzt nicht mehr so stark ins Gewicht.

Auch Jochen Stopper (Grüne) signalisiert Erklärungsbedarf: „Die Komplexität des Berichts ist so hoch, dass wir darauf angewiesen sind, dass die Stadtverwaltung ihn immer im Blick hat bei Entscheidungen und in den Vorlagen an den Gemeinderat auch darauf Bezug nimmt.“ Sozialbürgermeisterin Isabel Fezer sagte dies bereits für die kommenden Haushaltsplanberatungen zu.

Bestes Beispiel für die Auswirkungen der städtischen Bau- und Sozialplanung ist für Marita Gröger (SPD) der Stadtteil Berg im Osten. Dort lebten 2009 etwa 14 Prozent der Bewohner von Arbeitslosengeld II oder Sozialgeld. Laut neuem Atlas stieg deren Anteil auf 18,2 Prozent. Absolut betrachtet bedeutet dies einen Anstieg von 90 auf 379 Alg-II- und Sozialgeldempfänger. Als Ursache benennt die Stadträtin „die Aufsiedlung des Baur-Areals mit mehrheitlich Sozialwohnungen – eine Fehlplanung“.

Armut wird oft zementiert

Das Beispiel zeigt, in welcher Zwickmühle Quartiere und Sozialberichterstatter sind: „Wir helfen den Empfängern mit Leistungen aus der Bedürftigkeit, machen sie dadurch aber kenntlich als arme Leute, die in den Sozialdatenatlas kommen“, bedauert Isabel Fezer. Die Quartiere sind, so die Kritik, stigmatisiert und kommen selten aus dem tiefen Tal heraus. Arm bleibt arm.

Selbst die Programme Soziale Stadt, die überall dort ins Leben gerufen wurden, wo ein hoher Anteil armer Menschen lebte oder das Armutsrisiko besonders hoch war, brachte nicht den erhofften Erfolg: „Die Effekte einer stärkeren sozialen Durchmischung, die während der Sanierung angestrebt wird, sind nicht so stark, dass die Armutsquoten der Einwohner in dem jeweiligen Stadtteil nach Abschluss der Sozialen Stadt nicht mehr überdurchschnittlich hoch sind.“

Die Lehre, die man bei der Stadt daraus ziehen will, lautet, bei städtebaulichen Sanierungen stärker zu mischen zwischen städtischen Investitionen dort und anderen Bauinvestoren.

Jedes siebte Kind lebt von Sozialgeld

Ferner lassen sich folgende Schlüsse ziehen: Rund 46 000 Bürger der 586 000 Einwohner leben von Grundsicherung oder Arbeitslosengeld. Das sind 0,3 Prozent weniger als vor zwei Jahren. Der Anteil der über 65-Jährigen darunter ist um 0,6 Prozent gestiegen. Von den 31 600 Kindern bis sechs Jahren leben 4600 von Sozialgeld, zwei Prozent weniger als zum Vergleichsdatum 2009, allerdings schätzt die Stadt deren Armutsrisiko als hoch ein.

„Alleinerziehende haben immer noch das höchste Armutsrisiko aller untersuchten Gruppen“, konstatieren die Berichterstatter. In 11 150 Haushalten leben Alleinerziehende, fast 4000 von ihnen brauchen Sozialgeld – das sind 35,7 Prozent.

Insgesamt liege in der Mehrheit der Stadtteile eine ausgewogene soziale Lage vor. Es gibt aber auch eine Reihe von Stadtteilen, in denen viele unterschiedliche Gruppen auf Transferleistungen angewiesen sind. Dort, so die Verwaltung, sollte die soziale Infrastruktur ebenso unterstützt werden wie die sozialen Netzwerke. Wie, entscheidet sich bei Einzelmaßnahmen in der Zukunft. Thomas Fuhrmann (CDU) ist momentan jedenfalls dankbar, „dass der Atlas aufzeigt, wo wir noch handeln müssen“.

Hintergrund Transferleistungen als Armutsindikator

Arbeitslosengeld II und Sozialgeld sind seit 2005 im Sozialgesetzbuch II zusammengeführt. Das Geld steht Personen zu, die in Deutschland arbeitssuchend, erwerbsfähig, hilfebedürftig sind und das 15. Lebensjahr vollendet oder das 65. Lebensjahr noch nicht vollendet haben. Seit 1. Januar 2015 stehen alleinstehenden Erwachsenen 399 Euro pro Monat zu.   

Grundsicherung im Alter oder bei Erwerbsminderung wird laut Sozialgesetzbuch XII gewährt, wenn aus Altersgründen nicht erwartet werden kann, dass jemand seine persönliche Notlage durch Arbeit selbst überwindet oder dies aus gesundheitlichen Gründen nicht möglich ist. Leistungsberechtigt sind alle Personen vom 18. Lebensjahr an, ihnen stehen ebenfalls 399 Euro pro Monat zu.   

Hilfe zum Lebensunterhalt sichert die Existenz von Menschen, die keinen Anspruch auf die oben genannten Hilfsarten haben. Sie sind entweder nur zeitweise nicht erwerbsfähig, arbeiten weniger als drei Stunden am Tag, beziehen keine Rente, erhalten eine vorgezogene Altersrente in einer nicht ausreichenden Höhe oder haben einen Unterhaltsanspruch gegenüber ihren Kindern oder Eltern, den diese aber nicht erfüllen müssen, weil deren Einkommen die gesetzliche Grenze von 100 000 Euro unterschreitet.

Wohngeld ist ein staatlicher Zuschuss zu den Kosten für selbst genutzten Wohnraum. Er soll die Belastung für Haushalte mit geringem Einkommen zumutbar halten. Die Höhe hängt davon ab, wie viele Haushaltsmitglieder zu berücksichtigen sind, wie hoch die zuschussfähige Miete und das Gesamteinkommen sind.   

Bonuscards bekommen Personen, die Arbeitslosengeld, Grundsicherung oder Geld nach dem Asylbewerberleistungsgesetz erhalten sowie Familien mit geringem Einkommen (Schwellenhaushalte). Die Stadt gewährt mittels der Bonuscard Vergünstigungen bei Schul- und Kindertagesstättenbesuchen, das Mittagessen für einen Euro, der Waldheimbesuch ist frei, bei der Musikschule gibt es 90 Prozent Rabatt, günstigeren Eintritt in Schwimmbädern, der Wilhelma und vielen anderen Einrichtungen mehr. Zuschüsse zu Ausflügen, 100 Euro pro Jahr für den Schulbedarf, eine Schülerfahrkarte zum Eigenanteil von fünf Euro, Lernförderung und bis zu 120 Euro pro Jahr für Sportvereinsbeiträge oder Musikschulgebühren kommen so zusammen.     

Das Sozialticket verbilligt das 9-Uhr-Ticket und das 14-Uhr-Junior-Ticket für den öffentlichen Nahverkehr. Bonuscard-Inhaber können nun auch ein Jedermann-Ticket erhalten. Es ist nutzbar ohne zeitliche Einschränkung und wird innerhalb der Stadtgrenzen der Landeshauptstadt zur Hälfte bezuschusst. (czi)