Sozialarbeiterin Jenny Link und die Heimleiter Kerstin und Gerhard Speidel freuen sich über das fünfjährige Bestehen ihres Lebenshauses. Foto: Fuchs

Die Methoden von Gerhard und Kerstin Speidel sind ungewöhnlich. Und genau deshalb erfolgreich. In ihr Kinderheim kommen viele schwer traumatisierte Kinder, deren Verhalten so unangepasst ist, dass sie nirgendwo anders mehr untergebracht werden können. Wie sie es schaffen, trotzdem kein Kind aufzugeben, haben sie innerhalb von fünf anstrengenden, aber auch wertvollen Jahren herausgefunden.

Loßburg-Wälde - Auf drei Stockwerken gibt es viel Platz. Platz zum Spielen, Toben, in gemütlichen Ecken Entspannen oder gemeinsamen zu Lesen, Malen oder Musizieren. Kurzum: zum Leben. Das Lebenshaus Koinonia ist zugleich das Lebenswerk von Gerhard und Kerstin Speidel. Er ist Maschinenbauer, sie eine Pädagogin, die immer selbstständig sein wollte. Etwas mit Kindern zu machen und unabhängig ihre eigenen Konzepte verwirklichen zu können, war ihr Traum. Das Gebäude in Wälde gehörte dem Vater. Die verwinkelten Zugänge über die Stockwerke erinnern noch daran, dass es eine alte Mühle war. Die haben die beiden zu einem großzügigen, lichtdurchfluteten Haus umgebaut. Ganz oben sind die Kleinsten: Kinder von drei bis sechs Jahren. Es sei ungewöhnlich, dass ein Heim die komplette Altersspanne von drei bis 18 abdeckt, erklärt Gerhard Speidel. Das machen sie, damit die Kinder ab einem gewissen Alter nicht wieder aus ihrer Umgebung herausgerissen werden.

Kein Kind wird zurückgelassen

In der Mitte und unten wohnen Kinder und Jugendliche ab sieben Jahren. Die Bereiche mit den Schlafzimmern sind nach Geschlechtern getrennt. Es sind liebevoll eingerichtete Zimmer mit Büchern, Spielzeug und Bildern an den Wänden. Ein richtiges zu Hause. Und das ist mehr als viele von ihnen zuvor hatten.

Die Speidels wohnen ebenfalls im Haus. Nur eine Verbindungstür trennt das Kinderheim von ihrem Wohnbereich. Wenn etwas ist, können sie immer schnell da sein. Es kümmern sich zwar zehn Mitarbeiter in Schichten um die 14 Kinder und Jugendlichen, aber die Flexibilität sei dennoch wichtig. "Oft heißt es in Heimen: Ihr seid ja nur da, weil ihr Schicht habt und es müsst", sagt Kerstin Speidel. "Das ist bei uns nicht so." Die Kinder wissen, wer sich wirklich Zeit für sie nimmt. Und diese Zeit ist durch nichts aufzuwiegen. "Ein Kind hat letztens gesagt, es wisse noch genau, wie es vor fünf Jahren zu uns gekommen ist", sagt sie. Damals sei es sechs gewesen. Es erinnere sich, was Kerstin Speidel getragen hat, was sie gesagt hat. "Und du hast stundenlang mit mir auf dem Schoß auf der Treppe gesessen", habe das Kind noch gewusst. Wenn solche Momente in Erinnerung bleiben, ist das für die Leiter des Lebenshauses eine Bestätigung. "So etwas geht in der normalen Dienstzeit nicht", sagt Kerstin Speidel. Ebenso wie das Krisenmanagement, das sie oft fordert. "Die Kinder kommen mit Traumata zu uns, die immer wieder zu Krisensituationen führen", erklärt sie. "Und dann müssen wir schnell Ressourcen freisetzen können." Die Schützlinge merken es, ob diejenigen, die sich kümmern, überfordert seien, weil noch andere Kinder betreut werden müssen. Oder ob sie sich ganz auf das Kind einlassen können, wenn es ihm schlecht geht.

Starke Präsenz schaffe nicht nur Bindung, sondern auch Autorität, so Speidel. Und das ist ein Stück weit das Erfolgsrezept. Es gebe eine Regel im Lebenshaus Koinonia: Kein Kind wird zurückgelassen. "In anderen Einrichtungen werden Kinder, die Unruhe in Gruppen bringen, dort oft herausgenommen und in andere Heime gesteckt. In der Hoffnung, dass es dort mit anderen Methoden klappt", sagt die Pädagogin. "Aber sie tragen die gleichen Probleme in die anderen Gruppen hinein und es wird in der Regel nicht besser." Mit klassischer Pädagogik komme man in solchen Fällen nicht weiter. Es gebe Kinder, bei denen nichts, was im Lehrbuch steht, mehr greift. Sie lassen sich nicht in Schienen pressen.

Dann heißt es: Kreativ werden. Die Ansätze der Speidels sind ungewöhnlich. Und genau deswegen erfolgreich, sind sie überzeugt. Da gebe es nach fünf Jahren Jugendliche, die Kinder sehen, die nicht zu bändigen sind und ihre Wut und Trauer ungehemmt an ihrer Umgebung auslassen. Und sie erkennen, dass sie einmal selbst so waren. Und dass sie immer noch da sind, weil die Speidels sie ausgehalten haben.

Das Aushalten sei wichtig und manchmal auch gar nicht so einfach, gestehen die beiden. Die Regel heiße in der Gesellschaft: "Du hast dich daneben benommen, also wirst du jetzt bestraft und darfst nichts mehr", verdeutlicht Jenny Link, Sozialarbeiterin im Kinderheim. "Wenn wir so arbeiten würden, hätten wir keinen einzigen schönen Tag hier gehabt." Denn manchmal müsse man in Vorleistung gehen und den unangepassten Kindern trotzdem schöne Erlebnisse bereiten. Denn sie müssen erst einmal herausfinden, wofür es sich lohnt, sich anzupassen. "Wir haben einen Jugendlichen, der zeitweise sehr gute Phasen hatte und dementsprechend viel durfte", bringt Link ein Beispiel. Jetzt entwickle er sich gerade in eine eher negative Richtung, weshalb ihm einige Freiheiten gestrichen wurden. "Neulich hat er gesagt: Ich wünschte, es wäre wieder, wie es einmal war." Weil er die schönen Zeiten kennengelernt habe. Und erst dann können die Pädagogen sagen: "Das hast du in der Hand." Dann sei auch Mal die Zeit für klare Ansagen und Bestandsaufnahmen.

Neue Wege zu gehen, macht es spannend

Das Anliegen sei aber: Negative Erlebnisse, die in der Vergangenheit der Schützlinge überwogen haben, durch positive ersetzen. "Einmal hat ein Kind gefragt: Warum ist mein Rucksack so schwer?", sagt Kerstin Speidel. Damit habe es die schlechten Erinnerungen gemeint, die es mit sich herumtrage. "Weil Dinge passiert sind, auf die du keinen Einfluss hattest", habe sie geantwortet. "Du kannst die Vergangenheit nicht ändern, aber deine Zukunft gestalten." Sie mache den Kindern immer klar, dass ihre Vergangenheit sie auch stark gemacht habe. Und dass es für jeden von ihnen einen Lebensplan gebe. "Wir müssen sie in hoffnungslosen Zeiten daran erinnern, dass die Sonne auch wieder aufgeht."

Es sei natürlich nicht immer alles nur rosig. Vor allem der Anfang war schwer. Ein Kinderheim aufzumachen, war vor fünf Jahren ein Risiko, weil das Jugendamt mit dem Kinderheim in Rodt schon eine Anlaufstelle hatte. Es war unsicher, ob die damals sieben Plätze überhaupt voll werden. "Dann hatte das Jugendamt einen Fall, der so schwer war, dass man ihn nirgendwo anders unterbringen konnte. Also haben sie ihn uns gegeben", so Speidel. Das Kind ist auch nach fünf Jahren noch da. Und es kamen 13 weitere hinzu. Damit ist das Heim voll. Ob es mit dem ersten Kind doch einfacher war, als gedacht? "Nein", sagen sie wie aus einem Mund und schütteln energisch den Kopf. "Aber wir lieben unsere Arbeit." Auch wegen der nicht einfachen Fälle. Neue Wege zu gehen, mache es erst richtig spannend.

Ihre eigenen Wege gehen Speidels und ihr Team, wenn sie Jugendliche Jugendliche sein lassen. Da gehöre es auch dazu, sich nachts um 10 Uhr ein Spiegelei zu machen, einfach weil das ungewöhnlich ist. Ihre Wege gehen sie, wenn sie Streite ausfechten, die Kinder einfach nur aushalten oder mit ihnen gemeinsam schwere Zeiten durchstehen. Eigene Wege gehen sie auch, wenn sie drei Jungs mitten im verschneiten Winter in einen eiskalten Bach springen lassen, weil die Kinder das eben wollen und es brauchen, um sich abzureagieren.

Nach fünf Jahren hat das Team etwas Weitsicht gewonnen. "Wir können langsam sagen, dass das, was wir machen, funktioniert", sagt das Ehepaar. Und die Kinder? Viele von ihnen wollen gar nicht mehr weg. "Gerade die Kleinen sagen: Kann ich für immer bei dir bleiben, auch wenn ich schon ganz groß bin?", sagt Kerstin Speidel und lacht. "Wenn du willst, finden wir eine Möglichkeit", antwortet sie dann. Neulich sei ein 18-Jähriger in eine Wohnung gegenüber des Lebenshauses gezogen, die die Speidels mit ihm eingerichtet haben. Er beginnt nun eine Ausbildung. Den Schlüssel zum Haus behält er, sodass er kommen kann, wann er will. "Niemand wird mit 18 rausgeschmissen", sagt Gerhard Speidel. Auch das bedeute Koinonia: So lange und so intensiv Teilhaben, wie jeder das selbst will.

An diesem Samstag, 23. Oktober, wird das Kinderheim fünf Jahre alt. Wegen Corona ist die Feier auf das Frühjahr verschoben.