Skispringen - immer höher, weiter, schneller? Foto: Bendigsby

Skispringen: Olympiasieger Martin Schmitt über die Faszination Skifliegen, deutsche WM-Chancen, Kamil Stoch und Olympia.

Energie, Dynamik, Herausforderung, Risiko: Beim Skifliegen, sagt Martin Schmitt, "ist alles eine Nummer größer". Bei der WM in Oberstdorf traut der Olympiasieger den deutschen Athleten den Sprung aufs Podest zu.

Herr Schmitt, Sie waren einer der erfolgreichsten Skispringer der Welt. Wie weit ging ihr persönlicher Rekordflug?

Auf 224 Meter.

Das hört sich jetzt...

...nicht so spektakulär an, ich weiß. Aber das liegt schon 16 Jahre zurück, ich habe den Weltrekord damals nur um einen Meter verpasst. Es war definitiv ein weiter Flug.

Aktuell liegt der Weltrekord des Österreichers Stefan Kraft bei 253,5 Metern. Was ist seither passiert?

Vor allem eines: Die Schanzen sind durch Umbauten oder Modernisierungen größer geworden, egal ob in Vikersund, Oberstdorf, Bad Mitterndorf oder Planica. Die Anlagen sind jetzt auf dem neuesten Stand, die Radien erlauben viel weitere Flüge.

Wie weit?

Ich denke, dass auf den aktuellen Schanzen 255 oder 256 Meter möglich sind. Dann wären sie aber endgültig ausgesprungen.

Und wo liegt das Limit im Skifliegen?

Das hängt allein von der Größe der Schanze ab. Die Athleten könnten Sprünge landen, die um einiges weiter gehen.

Auch einen Flug auf 300 Meter?

In 50-Meter-Schritten zu denken, halte ich für gewagt. 1994 gab es den ersten Sprung über 200 Meter, dann dauerte es rund 20 Jahre, bis es Flüge über 250 Meter gab. Ich sehe die Entwicklung im Skifliegen als Prozess, der dauert, zumal nicht geplant ist, in nächster Zeit neue Anlagen zu bauen. Ein Sprung auf 300 Meter? Ist, rein theoretisch, auf einer entsprechenden Schanze möglich. Allerdings gibt es beim Ski-Weltverband kein Interesse, ein solches Projekt voranzutreiben.

Aber es ist schon so, dass nicht der Mensch der limitierende Faktor wäre?

Erst mal nicht. Ich kann mir vorstellen, dass nach einer steten Entwicklung auch ein Flug auf 300 Meter zu kontrollieren wäre. Allerdings fehlen uns für diesen Grenzbereich die Erfahrungswerte. Die Anfahrts- und Fluggeschwindigkeit wären enorm hoch, keiner weiß, wie das Material reagieren würde und wie hoch der Druck wäre, den die Athleten aushalten müssten.

Am Freitag beginnt die WM in Oberstdorf. Was ist am Skifliegen so faszinierend?

Alles ist eine Nummer größer. Schon auf den heutigen Großschanzen hat man das Gefühl des Fliegens, aber in Oberstdorf, Vikersund oder Planica ist dieses Gefühl noch viel, viel intensiver. Die Herausforderung ist riesig, denn in so einem Sprung steckt einfach unglaublich viel Energie.

Die Athleten sind bis zu neun Sekunden in der Luft.

...und spüren eine wahnsinnige Dynamik. Man springt nicht wie auf einer normalen Schanze einfach nur am Hang entlang und weiß dabei ziemlich genau, wo man landen wird. Sondern man fliegt mit einem wahnsinnig hohen Tempo über den Vorbau, ohne zu ahnen, wie weit es gehen wird. Und wenn man dann bei optimalen Bedingungen weiter unten die zweite Luft bekommt, quasi vom Hang wegfliegt, erlebt man ein Gefühl der Freiheit.

Und der Leichtigkeit?

Auch. Aber diese Leichtigkeit ist hart erarbeitet. In der Luft wirken enorme Kräfte, dabei die Ski zu kontrollieren, ist alles andere als einfach.

Ist jeder Skispringer automatisch ein begeisterter Skiflieger?

Nein. Es geht jeder hin, aber manche tun es nicht gerne. Ihnen ist die Anspannung zu hoch, und das Risiko auch. Vor einem Skiflug-Wettbewerb wird im Aufwärmraum oben an der Schanze wesentlich weniger geflachst als sonst. Da ist es doch ziemlich ruhig, und es ist großer Respekt zu spüren.

Skifliegen ist gefährlich.

Ja. Und jeder weiß vor seinem Sprung, dass er sich in eine Risikosituation begibt, in der er sich keinen Fehler erlauben kann.

Auch wer Weltmeister werden will, darf sich keine Patzer leisten. Wie sind die Aussichten der deutschen Springer bei der WM?

Andreas Wellinger und Richard Freitag traue ich alles zu.

Freitag hat zuletzt das Skifliegen am Kulm verletzungsbedingt auslassen müssen.

Wenn er fit ist, kann er weit vorne landen. Die Schanze in Oberstdorf liegt ihm.

Er hatte bis zu seinem Sturz beim dritten Springen der Vierschanzentournee in Innsbruck eine herausragende Saison. Sind Sie von seiner Entwicklung überrascht?

Ich war überrascht, dass es bis zu seinem absoluten Durchbruch so lange gedauert hat.

Warum?

Dass er das Potenzial für die Weltspitze hat, wussten alle, auch er selbst. Das hat die Sache vielleicht etwas erschwert, denn jeder hat nur darauf gewartet, dass es geschieht.

Und was ist vor dieser Saison passiert?

Richard Freitag hat sich flugtechnisch weiterentwickelt. Im Herbst hat er schon einzelne Sprünge auf Topniveau gezeigt und dann passierte, was typisch ist für das Skispringen: Nach dem ersten Erfolgserlebnis kommt man in einen Lauf, erreicht damit eine neue Qualitätsstufe.

Andreas Wellinger kommt dagegen nicht ganz an die Erfolge am Ende des vergangenen Winters heran.

Das stimmt, aber er springt nicht viel schlechter als damals. Bei der Tournee hatte er in Oberstdorf großes Pech mit den Bedingungen, und das Skispringen ist halt eine sehr sensible Geschichte: Man braucht die tiefe Überzeugung, dass man sich auf die eigenen Fähigkeiten verlassen kann. Wer grübelt, kann keine Topleistung bringen. Im Skispringen hängt enorm viel vom Kopf ab. Aber es gibt auch einen großen Vorteil.

Welchen?

Es kann sich alles sehr schnell drehen.

Schon bei der Skiflug-WM?

Natürlich. Andreas Wellinger ist vor einem Jahr beim Skiflug-Weltcup in Oberstdorf zweimal Zweiter geworden, er kann bei der WM ganz sicher um die Medaillen springen. Und, wenn es optimal läuft, sogar Weltmeister werden.

Sind nicht die Norweger die klaren Favoriten?

Sie stehen natürlich bei allen Experten auf dem Zettel, und das zurecht. Im Skifliegen sind sie mannschaftlich extrem stark.

Woher kommt das?

Die Norweger waren schon immer gute Flieger. Sie trainieren im Schüler- und Jugendbereich mit viel Anlauf, gehen immer auf Weite. Auch wenn mit Cheftrainer Alexander Stöckl die Absprunggestaltung wichtiger wurde, basieren ihre Sprünge dennoch auf Geschwindigkeit und Aerodynamik. Bei der Skiflug-WM sind die Norweger im Teamwettkampf nur schwer zu schlagen.

Gilt das auch für die Olympischen Spiele?

Eher nicht, wenngleich sie natürlich auch dort Medaillenchancen haben. Dafür sind die Aussichten der Deutschen für Pyeongchang noch besser als für die Skiflug-WM.

Warum?

Weil sie als Team im Springen stärker sind als im Fliegen, da bei der Ausbildung in Deutschland viel Wert auf den Absprung gelegt wird. Hier sind die deutschen Athleten absolute Weltspitze. Das passt perfekt zu den Anforderungen auf den normalen Schanzen.

Wie viele Olympia-Medaillen sind möglich?

Richard Freitag und Andreas Wellinger haben ganz sicher das Potenzial, um in beiden Einzelwettbewerben aufs Podest zu springen. Und im Teamwettbewerb stehen die Chancen ebenfalls sehr gut.

Bei der Tournee hat der Pole Kamil Stoch alle vier Springen gewonnen. Ist er nun auch der große Favorit für die Olympischen Spiele?

Nur wenn er genügend Zeit zur Regeneration findet.

Das wird nicht einfach.

Stimmt. Die Tournee hat ihn extrem viel Kraft gekostet. Und nach der Skiflug-WM kommt noch sein Heimweltcup in Zakopane, wo richtig viel Trubel sein wird.

Andererseits ist er top in Form.

Das ist wahr. Bei der Tournee hat er eine unglaubliche Konstanz gezeigt. Und wie er mit dem immensen Druck umgegangen ist, war beeindruckend. Immer wenn es nötig war, ist er voll da gewesen, hat in den Wettkämpfen seine besten Sprünge gezeigt.

Zählt er zu den ganz Großen in der Geschichte des Skispringens?

Er ist Olympiasieger und Weltmeister, hat den Gesamtweltcup und die Tournee gewonnen. Sollte er jetzt noch Skiflug-Weltmeister werden, hat er alles erreicht, was er erreichen kann. Wenn er seine Karriere beendet, wird er zu den größten Springern gehören, die unser Sport je hatte – definitiv!

Sie haben vor vier Jahren aufgehört und nun trotzdem ihr Olympia-Ticket gelöst.

(lacht) Richtig. Ich werde in Pyeongchang für den TV-Sender Eurosport tätig sein, und darauf freue ich mich. Außerdem leite ich gemeinsam mit meinem langjährigen Manager Hubert Schiffmann und Simon Ammann unsere eigene Sportmarketingagentur. Langweilig wird es mir nicht.  Die Fragen stellte Jochen Klingovsky.