Julia Heineck Foto: Herzog Foto: Schwarzwälder Bote

Historisches: Tag der Regionalgeschichte mit vielen Beiträgen / Hans Harter blickt in frühere Klassenzimmer

"Leben am Rand?! Lebensgeschichten aus Südbaden" – unter diesem Motto hat der "Tag der Regionalgeschichte" am Sonntag gestanden. Mehrere Referenten kamen dabei zu Wort, unter ihnen der Schiltacher Historiker Hans Harter.

Schiltach. Für heutige Eltern von Schulkindern unvorstellbar: Noch bis in die 1960er-Jahre übten Pädagogen und Religionslehrer das "Züchtigungsrecht" bei Schülern mit "Tatzen" und "Hosenspannis" aus. Harters Vortrag mit dem Thema "Schulkinder als Prügelknaben" ließ die Besucher im Adler-Saal am Sonntag wiederholt erschauern. Manche unter ihnen fühlten sich in ihre Schulzeit zurückversetzt, in der sie ähnliches erlebten, wie auch Harter selbst. Als Viertklässler hatten er und seine Kameraden 1953 in Lehrer Fischer einen tüchtigen Prügler, der hin und wieder die ganze Klasse antreten ließ.

Die Schreie der Schüler hörte der Glaser Karl, der als Tagelöhner im Schulhof Holz spaltete. Erst als der Glaser dem Lehrer mit erhobener Axt drohte, ließ der zorneswütige Lehrer von seinem Vorhaben ab. Wie Harter weiter schilderte, seien auch von Elternseite, wenn ihre Kinder blaugeschlagen von der Schule nach Hause kamen, Beschwerden an den Bürgermeister herangetragen worden. Daraufhin sei der Lehrer versetzt worden – von Vorder- nach Hinterlehengericht.

Als der Schultis den einen Fall erledigt hatte, seien schon die nächsten Eltern bei ihm vorstellig geworden. So manche prügelnde Pädagogen seien auf diese Weise als "Wanderpokal" durchs Land geschoben worden und bei einer Aktenauswertung könne man sein blaues Wunder erleben. Er wisse nicht, wie oft das Thema Prügelstrafe in der Schule schon geschichtlich untersucht worden sei. Praktische liege es vor einem, man brauche nur zu Klassentreffen gehen. Sie alle verbänden die alte Volksschule mit Lehrern, die mit Schlägen auf die Hände und Hintern reagierten, wenn Schüler schwätzten, lachten, ihre Hausaufgaben schlampig machten oder auf Fragen des Lehrers keine Antwort wussten.

Harter schweifte bis ins Jahr 1896 zurück, als Lehrer und Geistliche laut einem Urteil des badischen Oberverwaltungsgerichts zur "Vornahme empfindlicher körperlicher Züchtigungen" berechtigt waren, auch außerhalb der Schule. Dies sollten sich besonders jene Eltern merken, die wegen jeder geringfügigen Bestrafung ihrer verhätschelten Kinder gleich Alarm schlugen.

Es sei klar gewesen, dass es um eine Schule ging, die Disziplin mit Gewalt, Aufmerksamkeit mit Zwang und Lernen über körperliche Strafen zu erreichen versuchte. Schon in Klosterschulen seien Novizen bis aufs Blut gegeißelt worden. Um sich einen Einblick in den Alltag von badischen Volksschulen zu verschaffen, habe er in Zeitungen wie der "Kinzigtäler", im "Volksfreund" und Akten des Stadtarchivs recherchiert. "Da eröffnet sich ein Horror-Szenario von Volksschulen, die als Prügelanstalten bezeichnet werden müssen", urteilte Harter.

Er schilderte Beispiele von Prügelattacken, die in einem Fall sogar zum Tod eines Sechstklässlers führten. Der Gang zum Richter gegen prügelnde Lehrer sei mit hohen Hürden verbunden gewesen, da die Überschreitung des Züchtigungsrechts nachgewiesen werden musste. Auch die von Harter vorgetragenen unterschiedlichen Gerichtsurteile lösten bei den Zuhörern Kopfschütteln aus. So wurde 1911 im nordbadischen Mörsch ein katholischer Pfarrer für das Verprügeln von 18 Mädchen mit einer Geldstrafe 60 Mark und drei Mark Schmerzensgeld je Kind bestraft, während in Schiltach ein evangelischer Pfarrer für 72 "Tatzen" in einer Religionsstunde frei gesprochen wurde.

Aufbegehrende Schüler und Eltern hätten erst lange nach dem autoritären Kaiserreich Recht gesucht und erhalten. Ein großer Rückfall sei sicher der Nationalsozialismus gewesen. Es sei erstaunlich, dass die Prügelstrafe in Deutschland zuerst 1949 in der DDR und erst 1973 in der Bundesrepublik abgeschafft worden sei. Der Freistaat Bayern habe sogar bis 1980 gebraucht, wusste der Historiker.

Schiltach (lh). Julia Heineck hat beim "Tag der Regionalgeschichte" über "Hütekinder im Schwarzwald" gesprochen. Laut der Referentin sollten für das Viehhüten nur Jungen genommen werden. Trotzdem seien auch Mädchen eingesetzt worden, nur nicht so häufig.

Mit dem Einzug des elektrischen Weidezauns in den 1950er- und 1960er Jahren sei diese Kinderarbeit dann vorbei gewesen. Sie habe für ihren Vortrag etwa ein Dutzend Zeitzeugen befragt. Für sie sei es erstaunlich, dass viele Hütekinder gute Erinnerungen hätten. Es habe bei Betroffenen die Meinung geherrscht, dass es "damals halt so" gewesen sei. Es habe das Leben geprägt, nicht geschadet und das Positive überwogen. Andererseits sei auch von Sklavenarbeit und Überforderung gesprochen worden. Viele Kinder hätten es zu Hause allerdings auch nicht besser gehabt. Besonders dann, wenn ein Elternteil ein zweites Mal geheiratet habe, so Heineck.

Wie ein Besucher sich erinnerte, hätten Hirtenbuben und Hütekinder morgens die Geiß’ ein Stück auf dem Schulweg mitnehmen und irgendwo zum Grasen abgegeben und nach Unterrichtsende wieder abgeholt. Sie seien dann in der Schule diskriminiert worden, weil sie nach den Tieren rochen.

Ein weiterer Besucher zeigte sich überrascht, dass es noch in den 1950ern Hütekinder gegeben hat. Heinecks Vortrag finde er äußerst wichtig, weil bis vor 25 Jahren Hütekinder als schlechte Sache dargestellt worden sei. Das stimme so aber nicht.

Weitere Beiträge beim "Tag der Regionalgeschichte" waren "Erlebte Kindheit" von Hans-Jürgen Wehrle, "Unehelichkeit als Massenphänomen im 19. Jahrhundert" von Karin Orth, "Anekdoten südbadischer Originale" von Karl Volk, "Das Schicksal der Spengler- und Vagantenfamilie Hartmann im 19. Jahrhundert" von Günther Klugermann, "Integrierter Außenseiter: Bernhard Bischler, der ›Seher vom Kinzigtal‹" von Uwe Schellinger sowie "Vom Lebenskampf einer jüdischen Viehhändler-Familie in Sulzburg" von Heidi Holecek und Daniel Meynen.