Nach dem Familiendrama in Villingendorf sind die Ermittlungen gegen Polizisten und Behörden eingestellt worden. Foto: SDMG

Mutter hatte nach Familiendrama Anzeige erstattet. Verdacht einer strafbaren Handlung hat sich nicht ergeben. Mit Kommentar

Rottweil/Villingendorf - Sieben Monate nach dem Urteil gegen Dreifachmörder Drazen D. hat die Staatsanwaltschaft Rottweil entschieden: Die Ermittlungen gegen Polizei und  Behörden wurden eingestellt. Die Polizeibeamten hätten keine Handhabe gehabt, um gegen Drazen D. im Vorfeld wirksam vorzugehen. Die Mutter des getöteten Jungen will das nicht hinnehmen.

Die Mutter des getöteten Sechsjährigen hatte Anzeige erstattet. Sie sah bei Polizei und Behörden  erhebliche Versäumnisse und ist sich sicher, dass die Tat hätte verhindert werden können. Drazen D. hatte die Morde angekündigt, war bekannt für seine Gewalttätigkeit. Seine Ex-Partnerin hatte sich vor ihm mit dem kleinen gemeinsamen Sohn und dem neuen  Partner in Villingendorf versteckt, sich hilfesuchend an die Polizei und das Jugendamt gewandt. Vergeblich. Am 14. September 2017 erschießt Drazen D. seinen sechs Jahre alten Sohn, den neuen Lebensgefährten seiner Ex-Partnerin sowie dessen Cousine. Der 41-jährige Kroate  wurde am 26. Juni vergangenen Jahres vom Landgericht Rottweil wegen Mordes in drei Fällen sowie Verstoßes gegen das Waffengesetz zu einer lebenslangen Gesamtfreiheitsstrafe verurteilt.

Die Staatsanwaltschaft Rottweil hat in den vergangenen Monaten aufgrund mehrerer Strafanzeigen  Ermittlungsverfahren gegen vier Polizeibeamte, eine Mitarbeiterin des Landratsamtes Tuttlingen sowie eine Mitarbeiterin des Landratsamtes Rottweil  unter anderem wegen des Verdachts der fahrlässigen Tötung durch Unterlassen geführt. "Nach Abschluss der Ermittlungen wurden die Verfahren gegen sämtliche Beschuldigte eingestellt, da sich ein hinreichender Verdacht einer strafbaren Handlung nicht ergeben hat", teilt die Staatsanwaltschaft am Freitag mit.

Mutter von getötetem Jungen sieht Mitschuld bei Beamten

Die Mutter des getöteten Jungen hatte vier Polizeibeamten zur Last gelegt, trotz der vielen Warnzeichen durch ihre Untätigkeit die Tat mitverursacht zu haben. Die Ermittlungen hätten laut Staatsanwaltschaft jedoch ergeben, dass keinem der  Polizeibeamten vorgeworfen werden kann, Schutzmaßnahmen unterlassen und dadurch "vorhersehbar und vermeidbar" die Morde verursacht zu haben. Den Polizeibeamten obliege zwar eine "Garantenstellung zur Gefahrenabwehr", doch strafprozessuale Maßnahmen, durch die die Tat hätte verhindert werden können, hätten den Beamten nicht zur Verfügung gestanden. Es habe keine rechtlichen Voraussetzungen gegeben, um Drazen D. wegen der von seiner Ex-Partnerin angezeigten Bedrohungen und Sachbeschädigungen an der Wohnung zu inhaftieren. Sprich: Laut Staatsanwaltschaft waren der Polizei aufgrund der Gesetzeslage die Hände gebunden. Weiter heißt es: "Eine Sorgfaltspflichtverletzung der Polizeibeamten konnte nicht festgestellt werden."

Auch bei Mitarbeitern des Jugendamts sieht die Staatsanwaltschaft keine Mitverantwortung. Drazen D. hatte selbst ausgesagt, dass er die  streng geheim gehaltene neue Anschrift seiner Ex-Partnerin in Villingendorf bei einem Besuch des Jugendamtes in Tuttlingen herausgefunden habe. Dies konnte laut Staatsanwaltschaft nicht nachgewiesen werden. Es sei vielmehr davon auszugehen, dass Drazen D. bereits Anfang März 2017 – vor dem Termin beim Landratsamt – wusste, wo seine frühere Lebensgefährtin mit dem kleinen Sohn nun wohnt.

Auch Ermittlungsverfahren gegen Jugendamt-Mitarbeiterin eingestellt

Das Ermittlungsverfahren gegen eine Mitarbeiterin des Jugendamtes in Rottweil wurde ebenfalls eingestellt, "da eine objektive Sorgfaltspflichtverletzung durch die Beschuldigte nicht festgestellt werden konnte", so die Staatsanwaltschaft. Auch sie habe durch ihren Beruf zwar eine sogenannte "Garantenstellung zur Gefahrenabwehr", diese sei aber ausschließlich auf den sechsjährigen Sohn der Anzeigeerstatterin bezogen. Eine Verpflichtung, weitergehende Maßnahmen zu ergreifen, habe nicht bestanden. Dass Drazen D. tatsächlich entschlossen gewesen war, seinen Sohn zu töten, sei nach den Ermittlungen nicht erkennbar gewesen.

Die Mutter des getöteten Jungen ist über die Einstellung der Verfahren "mehr als unglücklich", wie ihr Anwalt Wido Fischer auf Nachfrage unserer Zeitung mitteilt. Sie will Beschwerde einlegen, über die dann der Generalstaatsanwalt in Stuttgart befinden muss.  Eine Entscheidung der Staatsanwaltschaft Konstanz, ob die Nichte Drazen D.s, die von seinen Racheplänen wusste, zur Rechenschaft gezogen wird, steht noch aus.

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Kommentar: Machtlos

Von Corinne Otto

Einen Tag vor der Entscheidung der Staatsanwaltschaft, das Verfahren gegen Polizei und Behörden einzustellen, erreicht mich ein Anruf aus Radolfzell. Es ist die frühere Nachbarin von Drazen D. und seiner ersten Frau. "Die Sache lässt mich nicht los", sagt sie, "ich will, dass alle wissen, wie brutal er schon früher war." Sie hat mitbekommen, wie Drazen D. seine Frau wieder und wieder verprügelte, ihr den Kiefer brach, wie er sie zwingen wollte, vor den Augen der Kinder vom Balkon zu springen. "Das alles war bei der Polizei bekannt – und nichts ist geschehen." Die Nachbarin kann das bis heute nicht begreifen. Wohl niemand kann das. Jetzt sagt die Staatsanwaltschaft klar: Die Gesetzeslage gibt es nicht her, dass eine tickende Zeitbombe wie Drazen D. wirksam entschärft wird. Die Polizei kann Bürger, die Todesangst haben und Hilfe suchen, nicht schützen – ein erschütterndes Fazit.