Nachbarn und Polizisten schildern am dritten Verhandlungstag das dramatische Geschehen in der Tatnacht. Foto: Graner

29-jährige junge Mutter stirbt als drittes Opfer. Drazen D. wollte schon 2014 "über Leben und Tod entscheiden". Mit Kommentar

Rottweil/Villingendorf - Eine Sporttasche von Drazen D., die am Tatort gefunden wird, gibt Aufschluss darüber, dass er sich schon vor Jahren als Herr "über Leben und Tod" aufgespielt haben soll. An Tag drei des Prozesses schildern außerdem Notärzte und Nachbarn das dramatische Geschehen in der Tatnacht.

Auch am Freitag verfolgt der Angeklagte, dem der Dreifachmord von Villingendorf zur Last gelegt wird, die Verhandlung vor der Schwurgerichtskammer des Landgerichts ohne Regung. Auch die Schilderungen zur Auffindesituation seines toten sechsjährigen Sohnes lassen ihn augenscheinlich unberührt. Der Junge lag im Wohnzimmer, an der Tür zum Flur, von wo der Täter mit der großkalibrigen Waffe schoss.

Als die Schüsse fallen, läuft ein Zeichentrickfilm

"Der Fernseher lief noch, es kam ein Zeichentrickfilm", erinnert sich einer der Kriminalbeamten im Zeugenstand. Seiner Kollegin fielen Flecken im Gesicht des Jungen auf. Mehrfach geht es in der Verhandlung um die Lage des toten Kindes, dessen Arme und die Frage, ob nach der Tat noch jemand etwas an der Position des Kindes verändert hat. Notärzte und Polizeieinsatzkräfte versichern, sie haben dies nicht getan.

Der zuerst eintreffende Notarzt aus Rottweil schildert, wie er den auf der Terrasse liegenden Mann und das Kind im Wohnzimmer auf Lebenszeichen untersuchte. Sie waren beide bereits tot. Die schwer verletzte Frau auf der Treppe habe zunächst noch auf Ansprache reagiert. Polizisten sichern währenddessen das Gelände ab, niemand weiß, ob der Täter zurückkommt. Im Rettungswagen kämpfen der Notarzt und eine Kollegin aus Oberndorf um das Leben der 29-Jährigen. Die schweren inneren Verletzungen – alles deutet auf einen Bauchdurchschuss hin – führen jedoch zu einem enormen Blutverlust. Der Kreislauf bricht zusammen, der Blutdruck ist nicht mehr messbar. Die Chance, dass sie überlebt, sei bei "unter einem Prozent" gelegen, als sie unter Reanimationsmaßnahmen in die Helios-Klinik gefahren wird. Dort wird um 22.57 Uhr der Tod festgestellt. Sie war die Cousine des getöteten Lebensgefährten von Drazen D.s Ex-Partnerin.

Mutter bricht nach Todes-Nachricht zusammen

Die Spurenlage und Zeugenaussagen von Nachbarn ergeben später, dass sie sich nach der Tat wohl noch von der Einliegerwohnung hinauf zur Straße geschleppt haben muss. Dort wird ein Schlüsselbund von ihr gefunden sowie der Splitter eines Terrassenstuhls. Verstörte Nachbarn berichten von sieben bis acht Schüssen. Später werden weitere vier bis fünf Schüsse im Bereich Hochwald gehört.

Die Mutter des getöteten Jungen, die fliehen konnte, hinterlässt bei ihrer verzweifelten Suche nach Hilfe an mehreren Nachbarhäusern Blutspuren an der Klingel. Bei zwei Häusern sind die Bewohner nicht da, erst im dritten Haus findet sie Unterschlupf.

Dort wird sie von einem Kriminalbeamten befragt. "Sie war sehr aufgelöst, hat immer wieder nach dem Gesundheitszustand ihres Sohnes gefragt", berichtet der Beamte. Als ihr später in dieser Nacht gemeinsam mit einem Arzt die Todesnachricht überbracht wird, sei sie "innerlich zusammengebrochen". Der Polizeibeamte hatte das Gefühl, dass sie wohl schon geahnt habe, dass ihr Sohn die Schüsse nicht überlebt hat.

Inhalt der Sporttasche gibt viele Hinweise

Am Tatort wird im Flur eine Sporttasche von Drazen D. gefunden, deren Inhalt auf den Bildschirmen im Gerichtssaal im Detail gezeigt wird. Kabelbinder, Klebebänder, eine Flasche mit Flüssigkeit – und jede Menge Zettel, Quittungen und Visitenkarten. Der Bericht des Kriminalbeamten, der den Inhalt ausgewertet hat, gibt interessante – und erschreckende – Einblicke in das Vorleben von Drazen D. Eine Spur führt zu einem Autohaus in Konstanz. Als die Polizei dort anruft, weiß die Mitarbeiterin gleich, um was es geht. Drazen D. habe bis 2014 in dem Autohaus als Wagenpfleger gearbeitet, dann habe man ihn entlassen müssen. Er sei "nicht mehr tragbar" gewesen. Die Chefin berichtet von psychischen Auffälligkeiten, Diebstählen, Bedrohungen gegenüber einem anderen Mitarbeiter. Er habe sich aufgespielt, als könne er "über Leben und Tod entscheiden". Und es sei klar gewesen, dass es ihm nichts ausmacht, wenn andere zu Schaden kommen. Der Vorsitzende Richter Karlheinz Münzer bittet den Kripo-Beamten, dem Gericht die Nummer und Anschrift der Autohaus-Chefin zukommen zu lassen.

Eine andere Visitenkarte weist auf ein Karosserie- und Fahrzeugunternehmen in Tuttlingen hin. Die Nachfrage ergibt, dass der Angeklagte und seine damalige Partnerin dort Kunden waren. Nach der Trennung habe sich Drazen D. erkundigt, ob dort jemand etwas über seine Ex-Partnerin weiß. Es wurde keine Auskunft gegeben. Die junge Frau hatte schon zuvor dort Bescheid gesagt, dass niemand etwas über sie sagen soll, falls Drazen D. kommen würde.

Eine Quittung in der Sporttasche belegt einen Lohnvorschuss über 300 Euro, den der Arbeitgeber in Mahlstetten dem Angeklagten gewährt hat. Andere Zettel, auch eine Visitenkarte von einem Arzt in Singen, sind etliche Jahre alt. Auf einem größeren Blatt stehen in kyrillischer Schrift Rezepte, auf einem anderen aufgelistete Ausgaben, unter anderem: Miete, Unterhalt – und ein Betrag für den Geburtstag des kleinen Sohnes.

Mehr zum Familiendrama in Villingendorf auf unserer Themenseite.

Kommentar

Zeitbombe

Von Corinne Otto

Nach drei Prozesstagen zum Dreifachmord von Villingendorf wird  erschreckend deutlich:  Drazen D. war nicht  irgendein verlassener Mann,   der seiner Ex-Partnerin nachstellt. Nein. Er war eine tickende Zeitbombe. Ein auch bei der Polizei  bekannter Gewalttäter. Er war in der Psychiatrie,  hat nicht nur die Mutter seines Sohnes, sondern auch andere Menschen bedroht. 2014 wird er an der Arbeitsstelle entlassen, weil er psychisch auffällig ist, sich als Herr über Leben und Tod aufspielt. Seine Ex-Partnerin lebt in großer Angst, wendet sich immer wieder an die Polizei.  Und auch als dieser brandgefährliche Typ im August droht, alle zu erschießen, passiert – nichts.  Lässt das Gesetz  bei so vielen Warnzeichen  wirklich keinen Spielraum, um einzugreifen? Geradezu unvorstellbar. Hoffentlich wird auch dieser Frage  so eindringlich nachgegangen, wie allen anderen Details des schrecklichen Falls.