Ein Herz ziert das Grab der kleinen Maya auf dem Friedhof in Spaichingen. Ihre Mutter wurde zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Foto: dpa

25-Jährige aus Aldingen, die ihren drei Kindern nie eine Mutter war, nimmt Strafe unter Tränen an.

Rottweil/Aldingen - Das Urteil ist der Kammer des Rottweiler Landgerichtes mehr als eine Stunde der Begründung wert. Mayas Mutter muss, weil die 25-Jährige ihr Kind verhungern ließ, für fünf Jahre in Haft.

In Handschellen wird die Angeklagte in den Gerichtssaal gebracht. Als ihr klar wird, dass sie für lange Zeit ins Gefängnis muss, schluchzt sie laut. Mit dem Strafmaß bleibt die Kammer des Landgerichts Rottweil ein Jahr unter der Forderung der Staatsanwaltschaft. Ihre Begründung: Es gebe keinen Beweis dafür, dass die Mutter den Tod ihres Kindes wollte – als sie die kleine Maya spätestens ab 18. Mai 2012 in Aldingen (Kreis Tuttlingen) dem völlig überforderten, damals achtjährigen Bruder allein zur Pflege überließ.

Folgende Tatbestände hält die Kammer allerdings für gegeben: "Körperverletzung mit Todesfolge durch Unterlassen, in Tateinheit mit Misshandlung von Schutzbefohlenen und in Tateinheit mit Verletzung der Fürsorgepflicht".

Älterer Bruder musste Maya beim Verhungern zusehen

Juristische Bezeichnungen, die nur entfernt ahnen lassen, welch grausames Schicksal sich hinter dem Fall Maya verbirgt. Grausam für das Mädchen, aber auch grausam für ihren ältesten Bruder, der mit der Versorgung seiner Geschwister völlig überfordert war. Nachts eingesperrt in einer vermüllten Wohnung, muss er zusehen, wie seine kleine Schwester langsam verhungert und verdurstet.

Grausam aber auch für die Mutter selbst, die noch während der Untersuchungshaft in eine schwere Depression verfällt. Im Strafvollzugskrankenhaus bescheinigt man ihr akute Selbstmordgefahr.

Keine Frage: Das Urteil kommt der Pflicht nach, gemäß Recht und Gesetz für Gerechtigkeit zu sorgen. Aber es macht Maya nicht mehr lebendig. Und es wird auch die irreversiblen psychischen Schäden bei ihrem Bruder Manuel nicht mehr beheben. Er muss den Rest seiner Kindheit und Jugend in einer Wohngemeinschaft verbringen. Keine Pflegefamilie ist mehr in der Lage, angemessen mit dem Kind umzugehen.

Wie kann eine Mutter so etwas tun? Dies ist die entscheidende Frage für den Vorsitzenden Richter Karlheinz Münzer. Er muss erklärende Worte für das Unfassbare finden. Dabei versucht er, ein den Zuhörern verständliches "Psychogramm" von Mayas Mutter nachzuzeichnen, jedoch ohne damit das Verhalten der Angeklagten zu entschuldigen.

Bereits im Alter von sechs Wochen kommt diese zu einer Pflegefamilie. Ihre Mutter ist alkoholkrank, ihren Vater lernt die Angeklagte nie kennen. In der Pflegefamilie in einer kleinen Gemeinde im Kreis Tuttlingen fehlt es ihr an fast nichts. Fast. Mit dem Stiefvater versteht sie sich gut, nur nicht mit der Stiefmutter, die ist streng. Das Gefühl angenommen und geliebt zu werden, lernt die Angeklagte nie kennen.

"Sie wusste und weiß nicht, wer sie ist"

Als sie 13 Jahre alt ist, begeht ihre Stiefschwester Ruth Suizid. Die einzig liebevolle weibliche Vertrauensperson. Die Angeklagte wiederholt die siebte Klasse der Hauptschule, holt ihren Abschluss erst viel später nach und fasst nie Fuß im Berufsleben. Als Teenager wird sie mit Manuel schwanger. Der Versuch, auf diese Weise der Kontrolle ihrer Stiefmutter zu entgehen, mündet in eine noch größere Abhängigkeit.

Die junge Mutter kann ihr Kind nicht selbst versorgen. In wechselnden Männerbekanntschaften sucht die Angeklagte Anerkennung. Sie findet sie nie. Ihre eigenen Pflegeeltern ziehen Manuel größtenteils groß. Aus einer weiteren Beziehung hat sie zwei weitere Kinder: Marcel und die kleine Maya.

Aber das Familienleben steht unter keinem guten Stern: Mayas Mutter ist in ihrer Persönlichkeitsentwicklung gestört. Der Richter fasst es in diesen Worten zusammen: "Sie wusste und weiß nicht, wer sie ist; sie wusste und weiß nicht, wie man Beziehungen aufrechterhält; sie wusste und weiß nicht, woraus man in Krisenzeiten Kraft schöpfen kann."

Das ist, wie der Richter unmissverständlich klarmacht, keine Entschuldigung für die unfassbare Tat. Aber vielleicht der Ansatz einer Erklärung. Mühsam und akribisch hätten Polizei und Staatsanwaltschaft ein Puzzle zusammengesetzt aus 48 Zeugenaussagen, den Gutachten von sieben Sachverständigen, aus "Ermittlungen, die in alle Richtungen gingen". Der Ermittlungsbericht umfasse mehr als 100 Seiten, gibt er bekannt. SMS-Protokolle wurden angefertigt, die Geodaten des Handys der Mutter mit ihren (falschen) Aussagen überprüft, wonach sie immer nach den Kindern geschaut und für ausreichend Nahrung gesorgt habe.

Nicht nur die Ermittler belügt sie. Über Wochen hinweg täuscht sie auch ihre Umgebung. Minuziös erzählt der Richter nochmals den Verfall einer Familienstruktur nach. Detailliert erklärt er, wieso die Mutter es hatte so weit kommen lassen, dass Maya schließlich in ihrem Kinderbettchen verhungerte und verdurstete.

Mutter will Therapie machen

Am Pfingstwochenende und wohl auch schon davor ist Mayas Mutter in einem psychischen Zustand, der für die wenigsten nachvollziehbar ist. Sie kann die Trennung von Mayas Vater nicht verwinden. Sie tut etwas, was paradox erscheint: Von Depressionen geplagt geht die Frau nachts aus in eine Diskothek, sucht sich neue Bekanntschaften.

Für Außenstehende wirkt es so, als ob sie die Versorgung ihrer Kinder im Griff hat. Am Morgen des 27. Mai 2012, zwischen 9.30 und 10 Uhr, frühstückt sie bei ihrem damaligen Freund im selben Ort – nach einer durchfeierten Nacht. Am Nachmittag geht sie zu ihren Kindern. Sie findet ihre tote Tochter im Kinderbettchen. Bis zum Eintreffen des Notarztes soll sie noch alles versucht haben, die Spuren für ihr Versagen zu verdecken – aus Angst, ins Gefängnis zu kommen.

Als der Richter die Schuldfähigkeit der Angeklagten bewertet, kommt er an sprachliche Grenzen. Zuflucht sucht er in juristischer Fachsprache: "Die Einsichtsfähigkeit ist da, doch ihre Steuerungsfähigkeit ist rechtsverbindlich gemindert." Dürre Worten hinter denen das eigentlich Unfassbare liegt.

Die Frau will nun im Gefängnis eine Therapie machen.