In 'Bis aufs Blut' von Oliver Kienle spielen Jacob Matschenz (li.)und Burak Yigit die Hauptrollen Foto: Camino Filmverleih

Filmregisseur Oliver Kienle über seinen prämiertes Jugenddrama "Bis aufs Blut".

Stuttgart - Er hat für Furore gesorgt mit seiner Diplomarbeit an der Ludwigsburger Filmakademie: Im August gewann Oliver Kienle den First-Steps-Nachwuchspreis mit "Bis aufs Blut", einem explosiven Cocktail aus jugendlichem Übermut, familiärer Zerrüttung, drogengeschwängerten Illusionen und falschen Freunden.

Herr Kienle, mancher Bürger wird bei Ihrem Film denken: So was gibt's doch gar nicht in Deutschland!

Schlägereien, Drogenverkauf - das ist relativ harmlos. Es ist eher die Ballung, das Timing. Im Knast war ich selbst nie, aber ein paar Kumpels von mir. Gefängnisse in Deutschland sind total unterschiedlich, manche harmlos und gut organisiert, manche schlimmer, als man sich vorstellen kann.

Was wäre denn nicht harmlos?

Manchmal ist das, was wirklich existiert, so krass, dass die Leute es gar nicht glauben wollen. Es gibt reale Geschichten über Inzest und Sexsekten in deutschen Vorstädten, die würde jeder als unrealistisch bezeichnen, wenn es einen Kinofilm darüber gäbe.

Was tun Sie, damit es doch jemand glaubt?

Ich bin der Meinung, Realismus hat im Film nichts verloren. Kino muss nicht realistisch sein, sondern fiktional wahrhaftig. Ist ein Film realistisch, glaubt man vielleicht, was passiert, aber es ist stinklangweilig. Man muss eine fiktionale Überhöhung finden, die Zuschauer in die Geschichte einsaugen, das Geschehen nachvollziehbar machen.

Wie eng waren Sie denn dran an einer solchen Szene wie im Film?

Ich komme vom Dorf und habe bei deutschen Filmen aus urbanen Brennpunkten immer gedacht: Das ist alles? Wir haben hier dasselbe. Deutsche Jugendliche haben überall dieselben Probleme, und nicht nur, weil sie aus einer schlechten Gegend stammen, sondern weil die Zeit so ist und die Versuchungen dieser Generation so sind.

Man kann sich leicht vorstellen, was Thilo Sarrazin zu Ihrem türkischstämmigen Protagonisten Sule sagen würde . . .

Ich will den Namen von dem Typen gar nicht aussprechen. Seine Kritiker haben schon genug unfreiwillige Werbung für sein bescheuertes Buch gemacht. Wir haben am Anfang auch Reaktionen bekommen wie: Kann man das nicht mal umdrehen, Tommy und Sule die Rollen tauschen lassen? Aber was soll denn das? Ich gehe ja auch nicht in die USA, drehe einen Film über Rassismus und erzähle, wie ein Schwarzer einen Weißen diskriminiert. Unabhängig von all den Verwerfungen ging es in erster Linie um diese Freundschaft, die endet, als Tommy Sule fallenlassen muss, um selbst zu überleben. Und da war es wichtig, Sule so weit wie möglich zu entwurzeln, sonst ist die Geschichte nicht dramatisch. Keine Eltern, keine Chance, der hat nichts. Ich würde eher hoffen, dass man ein bisschen Empathie für ihn empfindet, als dass man über ihn urteilt.

Ist Burak Yigits als Sule so, wie Sie sich ihn vorgestellt haben?

Absolut, denn Sule handelt aus dem Bauch heraus, und Burak spielt aus dem Bauch heraus. Sein Sule hat ein großes Herz, deshalb verzeiht man ihm so vieles. So eine Spielfreude habe ich noch nie gesehen. Für die Friedhofsszene, wo er um seine Mutter heult, sollte er uns nachher im Synchronstudio nur ein paar Schluchzer geben, und was macht er? Er fängt wieder an zu heulen, was gar nicht nötig gewesen wäre.

Simone Thomalla spielt Tommys alleinerziehende Mutter - war es schwer, sie dafür zu gewinnen?

Wir brauchten eine Frau, die der Energie dieser jungen Schauspieler etwas entgegensetzt, der man glaubt, dass sie vor 20 Jahren in Clubs gegangen ist und einen draufgemacht hat. Und der man glaubt, dass die einen jungen Kerl die Treppe hinunterwirft. Simone fand das interessant. Sie hat immer gesagt: Das ist nur eine Nebenrolle, lass sie uns nicht größer machen, als sie ist. Und sie hat eine Palette Bier mitgebracht zum Dreh.

"Mein Ziel ist großes Kino"

Sie erzählen in nur sechs Minuten schlaglichtartig die komplette Geschichte dieser Freundschaft, bis Tommy ins Gefängnis kommt . . .

Das Ziel war, das wie den Trailer eines Lebens zu gestalten, mit Energie einzusteigen, dieses Gefühl des Gegen-die-Wand-Rennens abzubilden: Ich habe eine geile, wilde, schnelle Jugend, aber das kann plötzlich vorbei sein, und dann muss ich mich festhalten und orientieren, sonst komme ich aus dem Strudel nicht mehr heraus.

Ihre Bilder entwickeln große Dynamik . . .

Das Tempo und ein gewisser Druck, den die Kamera aufbaut, waren unser Credo. Wo immer wir konnten, haben wir Kamerafahrten eingebaut. Ich wollte eine Sogwirkung erzielen, wie man sie von Martin Scorsese oder Clint Eastwood kennt, die gehen mit der Kamera immer mittenrein. In vielen europäischen Filmen gibt es diese Glaswand, eine gewisse Distanz, die ich nicht mag.

Hatten Sie Bedenken, wie der Film bei Ihnen zu Hause aufgenommen wird?

Ich stamme aus einer total bürgerlichen Familie und habe alle gewarnt. Meine Mutter hat den Film dann mit meinem älteren Bruder angeschaut, der hat öfter zurückgespult, ihr vieles erklärt und sie immer wieder daran erinnert: Es ist nur ein Film! Ich hatte gute Eltern, die sich nicht andauernd in unser Privatleben eingemischt haben und unsere Erfahrungen haben sammeln lassen.

Zieht es Sie mit dem Erfolg im Rücken nach Berlin, der Stadt der jungen Filmemacher?

Definitiv nein. Nach den ganzen Festivals will ich jetzt wieder normales Leben tanken. Deshalb gehe ich erst mal zurück nach Würzburg, da kann ich in Ruhe schreiben. In Berlin nicht. Die Geschichten, die man erzählt, müssen von Leuten handeln, die nicht vom Film sind, und in Berlin ist man von Filmleuten umgeben. Ich bin auch kein Berlin-Fan. Ich bin nun mal hier aus dem Süden und da gehöre ich auch hin. Da ist es warm, und die Leute sind irgendwie gemütlicher.

Wie lautet Ihr Fazit im Hinblick auf das Studium an der Filmakademie?

Mir hat gefallen, was manche nervt, zum Beispiel die Nähe zum Fernsehen. Nicht weil ich jetzt nur noch Fernsehen machen möchte, mein Ziel ist großes Kino, sondern weil man gezwungen wird, sich mit Dingen auseinanderzusetzen, mit denen man später Geld verdient. Eine gute romantische Komödie fürs Fernsehen zu machen gehört zum Anspruchsvollsten, was es gibt. Sich den technischen und finanziellen Bedingungen zu stellen ist eine Herausforderung und keine Schande, im Gegenteil. Oder zu wissen: Ich brauche jetzt drei oder vier Millionen Zuschauer.

Richten Sie sich sehr nach dem Publikum?

Ich beschäftige mich sehr mit ihm und habe gesunde Angst vor ihm. Wir haben bei "Bis aufs Blut" vier Testvorführungen gemacht mit Jugendlichen, um das richtige Tempo zu finden. Die packen ja sofort ihr Handy aus, wenn ihnen langweilig wird. Andererseits muss man so erzählen, dass ältere Leute keinen Herzinfarkt kriegen. Das Tolle am Regieführen ist ja, dass man lernt, die Zuschauer zu manipulieren, ihnen beizubringen, jemanden zu lieben oder zu hassen, zu lachen oder zu weinen. Christopher Nolan zum Beispiel weiß genau, wie er einem Mainstream-Publikum anspruchsvolle Stoffe so anbietet, dass es sich trotzdem hervorragend unterhält. "The Dark Knight" wäre in den 90ern noch im Arthouse-Kino gelaufen.