Foto: Foto: dpa

In Paris herrscht nachts Langeweile. Die Clubszene ist frustriert und wandert nach Berlin ab.

Paris - Paris ist ein Touristenmagnet, aber in der Nacht herrscht gähnende Langeweile - Rauchverbot und Lärmschutz zwingen Bars und Discos in die Knie. Die Clubszene ist frustriert und wandert nach Berlin ab.

In der Nacht herrscht Krieg. "Sie bewerfen uns mit Eiern oder schütten uns Wasser auf den Kopf", klagt Francis, der junge Mitinhaber der Zero-Zero-Bar in der Pariser Rue Amelot. Seitdem der beliebte Techno-Club vor anderthalb Jahren im elften Bezirk die Pforten öffnete, hagelt es am laufenden Band Beschwerden genervter Nachbarn.

Besonders an Wochenenden drängelt sich das Partyvolk in dichten Trauben auf dem Trottoir, weil drinnen nicht mehr geraucht werden darf. Je später die Stunde, desto höher der Alkoholpegel. Und desto stärker der Lärm, der auch Nachbarn um ihren Schlaf bringt. Die Herren von der Präfektur zählen längst zu den Stammgästen im graffitibesprühten Zero Zero, dessen Inneres nicht viel größer ist als ein Bierdeckel. "Wir haben schon 12000 Euro Bußgeld bezahlen müssen", stöhnt Francis. Nicht zu vergessen die 30 langen Tage, an denen sie den Laden ganz dichtmachen und auf Einnahmen verzichten mussten.

"Hier werden die Bürgersteige um 23 Uhr hochgeklappt"

Es tobt ein schmutziger Kleinkrieg in der Pariser Nacht. Einer, der keine Lösung und fast nur Verlierer kennt. Als ein bedauernswertes Opfer "systematischer Verfolgung" sieht sich auch Xavier Simon, der Inhaber des La Mécanique Ondulatoire, eines brummenden Musikclubs nahe dem Vergnügungsviertel Bastille. Weil lärmgeplagte und prozessfreudige Anwohner auch hier auf die Barrikaden gehen, musste der in einer für Großstadtverhältnisse recht ruhigen Straße gelegene dreigeschossige Club im August acht Tage lang schließen und renovieren. "Das verursacht 20.000 Euro Einnahmeausfälle und 100.000 Euro für Schallschutzmaßnahmen", rechnet Simon vor.

Dass der Musikclub überhaupt überlebt, hat der Kneipier dem engagierten kommunistischen Stadtrat Ian Brossat zu verdanken. Der legte ein gutes Wort für die Macher des Mécanique Ondulatoire ein und erwirkte einen Aufschub. Nun kann Xavier Simon erst mal tief Luft holen.

Wären diese Begebenheiten von der Nachtfront nur Einzelfälle, könnte man getrost zur Tagesordnung übergehen. Doch Paris hat tatsächlich ein gravierendes Problem mit seinem Nachtleben. Immer häufiger wird Clubs und Discotheken die Lizenz entzogen wegen nächtlicher Ruhestörung. Dieselbe Stadt, die Millionen begeisterter Touristen als charmante und strahlende "Ville lumière", als pulsierende Lichterstadt wahrnehmen, geht für Metropolenverhältnisse ungewöhnlich früh ins Bett. "Hier werden die Bürgersteige um 23 Uhr hochgeklappt", sagen die Zero-Zero-Leute.

Ein Flug nach Berlin für 35 Euro

"Die nächtliche Ruheordnung degradiert die Lichterstadt zu Europas Schlummer-Hauptstadt", heißt es in einer unlängst an den Bürgermeister, den Polizeipräfekten und Kulturminister Frédéric Mitterrand gerichteten Petition. Der "offene Brief" hat über 14.000 Unterschriften, darunter die von Barbesitzern, Kellnern, Musikern, DJs und Nachtschwärmern.

Selbst die Prestigezeitung "Le Monde" diagnostiziert eine weit verbreitete Katerstimmung und spuckt den Tourismuswerbern mit einer bitteren Schlagzeile ins Glas: "Paris - Europas Hauptstadt der Langeweile." Als Zeugen der Anklage zitiert das Blatt den Mitunterzeichner Jules Frutos, der als Konzertveranstalter drei große Disco- und Musikkneipen bespielt: das Bataclan, La Flèche d'or und La Maroquinerie. "Wir haben die Nase gestrichen voll", sagt er. In den Umbau des Flèche d'or (Goldpfeil) haben sie 750000 Euro gesteckt, der Schallschutz ist fast einen Meter dick. "Wenn die Nacht in Ruhe stirbt", heißt die Resolution auf der gleichnamigen Website quandlanuitmeurtensilence.com.

Nach großen Discotheken sucht der Nachtschwärmer in Paris schon seit langem oft vergeblich. Sicherlich, es gibt noch das Showcase, ein Treff, malerisch gelegen in den Gewölben der schönsten aller Seinebrücken, dem mit allerhand Blattgold verzierten Pont Alexandre III. Andere Tanztempel hingegen sind längst von der Bildfläche verschwunden, wie etwa das Les Baines-douches oder das Le Palace, das sie in ein Theater umfunktionierten. Um ein Haar hätten sie auch das nach einjährigem Rechtsstreit von Schließung bedrohte legendäre La Loco am Fuße des Montmartre in ein gastronomisches Anhängsel des benachbarten Moulin Rouge verwandelt. Immerhin: La Locomotive heißt jetzt La Machine und ist - mon Dieu! - weiterhin ein Tanzpalast. "Geschlossen - weil die Stadt tot ist", steht auf einem symbolischen Plakat, das die Initiatoren der Petition entworfen haben. Es eignet sich für soeben geschlossene Clubs und Bars, und gibt dem enttäuschten Partyvolk noch einen zynischen Tipp mit auf den Weg: "Wenden Sie sich bitte an die nächstgelegene Hauptstadt."

Ein Flug nach Berlin für 35 Euro

Dorthin hat sich die frustrierte Pariser Partykarawane längst aufgemacht. "Die angesagteste Stadt überhaupt ist momentan Berlin", schwärmt Alexandre, der Barkeeper im Zero Zero. Genaud, ein junger Pariser Maler, nickt zustimmend: "Berlin bewegt sich." Je mehr sich die französische Hauptstadt in ein Dorado zahlungskräftiger Bobos (Bohèmien bourgeois) verwandelt, desto größer der Exodus der jungen Pariser Kreativen und Untergrund-Künstler, der Szene-Musiker und DJs, der Maler und Grafiker. Billig-Airlines wie Easy Jet ermöglichen ein reges Hin und Her. "Ein Flug nach Berlin kostet nur noch 35 Euro", sagt Barkeeper Alexandre. Easy-Clubber heißt dieses reisefreudige bunte Völkchen, das in den pulsierenden europäischen In-Metropolen zu Hause ist.

In einschlägigen Internetforen werden Paris-Kritiker von lokalpatriotischen Hauptstädtern zwar gerne als notorische Nörgler und Nestbeschmutzer abgekanzelt. Doch die Ende letzten Jahres vorgelegte Studie der Wirtschaftshochschule EGE belegt, dass das Pariser Nachtleben ungefähr dieselbe Wirkung entfaltet wie eine Schlaftablette. Sicherlich sei Paris immer noch das weltweit bedeutendste Touristenziel, allerdings genieße die Stadt - Venedig lässt grüßen - immer mehr das Image einer Museumsstadt. In der Hitparade der angesagten Städte rangiert Berlin an erster Stelle vor Barcelona, London und Amsterdam. Paris liegt abgeschlagen auf Platz fünf.

Rauchverbot als Ursache der Nachflaute

Paris - das ist die Wohlfühl-Adresse für amerikanische Ostküsten-Schickeria, deutsches Bildungsbürgertum und noch zahlungskräftigere japanische Manager, die die gesalzenen Rechnungen in den unzähligen Musen-, Konsum- und Gourmet-Tempeln der Stadt bevorzugt mit Gold- oder Platinkarten begleichen.

Wenn sie, berauscht und satt von Bildern und Bordeaux, von Dégas und Ducasse, im teuren Hotelzimmer ihr Haupt betten, knipst Paris - pssst - das Nachttischlämpchen aus. Die erlebnishungrige junge Club-Szene hingegen schaut meistens in die Röhre. Es gibt zwar noch Schickeria-Schuppen wie Le Baron, Paris Paris, La Régine oder den Rex-Club. "Aber wer kann sich das leisten? In Berlin ist alles viel billiger", sagt Genaud, der Maler.

Rauchverbot als Ursache der Nachflaute

Hauptursache der Nachtflaute ist laut Studie das seit dem 1. Januar 2008 geltende Rauchverbot, das die Raucher auf die Bürgersteige und den Lärmpegel in die Höhe treibt. In diesem Moment greifen die rigiden Lärmschutzvorschriften. Probleme gibt es ferner beim Transport - werktags fährt die letzte Metro bis ein Uhr, samstags nur bis zwei Uhr. Und ein Taxi zu ergattern, gilt in Paris auch tagsüber als Glückssache.

Der städtische Tourismusbeauftragte will hingegen vom imageschädigenden Abgesang auf das Pariser Nachtleben nichts wissen. "Paris liebt die Nacht", sagt Jean-Bernard Bros in einer Mischung aus Trotz und Zuversicht. Und verweist auf die vor einigen Monaten freigeschaltete Website parisnightlife.fr. Mehr als 330 Bars, Restaurants, Cafés, Clubs und Discotheken listet die Broschüre auf, die ständig aktualisiert wird.

Julia Giese, eine junge Deutsche aus Hannover, die seit ein paar Jahren in Paris lebt, hat vor einem Jahr die Udobar im bekannten Vergnügungsviertel Oberkampf eröffnet. Ihr großer Traum: ein kleiner Club mit viel Berlin-Feeling. Hier gibt es angesagte DJs, frisches Paulaner vom Fass und die leckerste Currywurst der Stadt. Aber leider auch die hinlänglich bekannten Lärmprobleme. "Vom ersten Tag an habe ich Ärger mit den Nachbarn, schon morgens beim Bäcker wirst du angepöbelt", erzählt die gefrustete Jung-Gastronomin.

Freitags und samstags haben sie nun eigens einen Aufpasser abgestellt, der die Gäste draußen freundlich ermuntert, doch bitte leise zu sein. Hilft auch das am Ende nicht, schließt die junge Deutsche nicht aus, die Zelte am Eiffelturm abzubrechen. Und wohin dann? "Nach Berlin, wohin sonst", sagt Julia Giese.