Der 82-jährige Heiner Geißler fasziniert immer noch seine Zuhörer, so auch jetzt in der evangelischen Stadtkirche. Foto: Wolf Foto: Schwarzwälder-Bote

Der gebürtige Oberndorfer fasziniert zahlreiche Zuhörer / Absage an grenzenlosen Marktkapitalismus

Von Peter Wolf

Oberndorf. 82 Jahre und noch genauso angriffslustig sowie scharfzüngig wie eh und je: Fast zwei Stunden lang ging der gebürtige Oberndorfer Heiner Geißler in der evangelischen Stadtkirche mit jugendlicher Verve und brillantem Scharfsinn der Frage nach "Was würde Jesus heute dazu sagen?". Und seine Antworten darauf dürfte so manchem Politiker, Kirchenvertreter, Investmentbanker, Spekulanten sowie Finanzjongleur nicht gefallen: Begründet auf dem Menschenbild des Jesus – alle Menschen, egal welcher Farbe, Rasse, Religion, Nationalität, egal ob Mann oder Frau, egal ob arm oder reich, ob jung oder alt sind in ihrer Würde gleichermaßen unantastbar –, prangerte er den grenzenlosen Marktkapitalismus, aber auch die fortwährende Diskriminierung und Unterdrückung der Frauen in weiten Teilen dieser Welt an.

Seine Verbundenheit zu seiner Geburtsstadt Oberndorf – beim Fußmarsch von seinem Elternhaus in der Mauserstraße ins Städtle blickte der Katholik gerne zum prägnanten Turm der evangelischen Stadtkirche hoch –, zeigte Geißler darin, dass er auf ein Honorar für den Vortrag verzichtete. So freute sich der Vorsitzende des Fördervereins, Günter Niethammer, dass die Einnahmen voll und ganz der Arbeit des Vereins zugute kommen.

Geißler begründete seine Antworten auf die "frohe Botschaft" von Jesus in den Evangelien, wobei er gerne den griechischen Urtext heranzog, weil aus seiner Sicht der Kirchenvater Hieronymus in seiner lateinischen Übersetzung wissentlich die Aussagen von Jesus verfälscht habe. Als Beispiel führte er die Übersetzung des griechischen "metanoia" (Umdenken "Denket um") ins lateinische "paenitentia" (Buße, "tue Buße") an. "Seitdem haben die Christen immer ein schlechtes Gewissen, gehen tief gebeugt herum." Die Kirche habe den Gläubigen auf Grund dieser Bibelfälschung zum ständigen Sünder gemacht, um Macht über ihn zu haben. "Von der eigentlichen frohen Botschaft ist nicht mehr viel übrig."

Das Unerhörte und völlig Neue an Jesus’ Botschaft sei dessen Menschenbild und die Verkündung der Nächstenliebe gewesen, betonte Geißler, der kein Hehl aus seiner Ablehnung des Gottesbildes im Alten Testament machte. Danach habe die Frau die Sünde in die Welt gebracht. Jesus dagegen sei ein Freund der Frauen gewesen. "Dieses falsche Menschenbild ist seit Jahrtausenden die Ursache für die schlimmsten Verbrechen" bekräftigte Geißler.

Ebenso scharf geißelte der Sozialethiker die Tatsache, dass die drei Elemente "Gier, Geiz und Geld" die Welt beherrschten. Weder Kirchen noch Politiker unternähmen etwas nachhaltig dagegen. Der Mensch werde zum Kostenfaktor degradiert, sein Wert danach bemessen, wie viel Geld er scheffle. Die Kirchen forderte er auf, sich an die Spitze einer revolutionären Bewegung zu setzen, die dafür kämpfe, Jesus’ Menschenbild und die Nächstenliebe zu der Geltung zu verhelfen, welche die christliche Religion zur großartigsten, menschenfreundlichste Lehre gemacht habe. Nach starkem Beifall signierte Geißler noch zahlreiche Bücher, welche die begeisterten und nachdenklichen Zuhörer am Büchertisch der Buchhandlung Altenburger erworben hatten.