Nie wieder will Raphael Hildebrandt das Pfarrhaus von Oberharmersbach betreten. Im Büro im ersten Stock hat Franz B. ihn und andere Ministranten jahrelang zum Sex gezwungen. Foto: Haas

Raphael Hildebrandt erhebt schwere Vorwürfe gegen die katholische Kirche. Erzbischof Burger will sich mit ihm treffen.

Oberharmersbach - Die Enge war kaum auszuhalten. Er konnte sich nicht mehr bewegen, nichts mehr sagen, sich nicht wehren. "Ich war wie eingeschnürt in einer Jacke, ich musste funktionieren." Elf Jahre alt war Raphael Hildebrandt, als es anfing, als der Pfarrer ihn in der Sakristei aufforderte, ihm den ersten Kuss zu geben. Es war ein Befehl, und dem Pfarrer gehorchte jeder. Es blieb nicht beim Kuss.

Sein weißes Chorhemd trug Raphael Hildebrandt voller Stolz. Er fühlte sich auserwählt als Ministrant in Oberharmersbach (Ortenaukreis), einem Schwarzwaldkurort, der katholischer kaum sein konnte. Mit einer Kirche so groß, dass fast alle 2500 Einwohner darin Platz finden, sonntags war sie immer voll. "Ich empfand es als ein Ehrenamt", erinnert sich Hildebrandt, "man hatte einen Status im Dorf, wenn man zu den Ministranten gehörte."

Viele im Ort haben es gewusst – aber keiner hat es angesprochen

Viele im Ort hätten es gewusst, sagt Hildebrandt – aber keiner habe es angesprochen. Der 47-Jährige sitzt auf der Eckbank in seinem Wohnzimmer. Er teilt sich ein Häuschen mit seiner Schwester, ist nie weggezogen von Oberharmersbach. "Es ist schön hier", findet er. Durchs Fenster hat er den Kirchturm von St. Gallus im Blick; das mache ihm nichts aus. Er sei immer noch gläubig, auch nach all dem, was ihm angetan wurde. Nur für den Pfarrer, der allen so heilig war, so unantastbar, für den habe er nur Abscheu übrig.

Franz B., ein strenger Mann, gehbehindert seit einer Kinderlähmung, wurde 1968 nach Oberharmersbach versetzt. Der Pfarrer habe seine Sache gut gemacht, sagen sie noch heute im Ort über die 24 Jahre, in denen er das halbe Dorf getauft, getraut, beerdigt hat. Ein Seelsorger, den alle schätzten, dessen Predigten Gewicht hatten. Im Gottesdienst ließ er sich von den Messdienern stützen, Kinder als Krücken, er suchte den Körperkontakt, jeder konnte es von den Bänken aus sehen. Dutzende Kinder und Jugendliche soll er missbraucht haben in all den Jahren, Raphael Hildebrandt kommt auf 70 bis 80. Der Pfarrer habe ihnen gedroht, sich umzubringen, wenn sie darüber redeten. "Sagt bloß nichts", soll er ihnen eingeschärft haben. "Ihr seid ja selbst schuld."

Drei Minuten im Auto braucht Raphael Hildebrandt bis zum Pfarrhaus gleich neben der Kirche St. Gallus. Er parkt mit etwas Abstand. "Da oben im ersten Stock ist es passiert, das Büro im Eckzimmer." Ein mächtiger Bau, an der Fassade ist Jesus mit Hirtenstab aufgemalt. Manchmal wurde Raphael Hildebrandt allein ins Büro gerufen, manchmal mussten sie zu zweit oder zu dritt "dem Pfarrer helfen". So nannte er es, wenn er sie zu sich orderte, unter dem Vorwand, noch etwas aufzuräumen. Immer mal wieder sei eine Kamera mitgelaufen, erzählt Hildebrandt. Mehr als 400 Mal habe ihn der Pfarrer missbraucht. "Er hat alles mit uns gemacht, er hat keine Sexualpraktik ausgelassen." Auf dem Speicher sei eine Tischtennisplatte gestanden, erinnert sich Hildebrandt, die Spieler mussten Rundlauf machen, nackt – zur Befriedigung des Pfarrers.

Zweimal haben sie versucht, das Schweigen zu brechen. Einmal schrieben sie einen Hilfebrief an das benachbarte Kapuzinerkloster Zell. Antwort hätten sie nie erhalten. Von einer Telefonzelle aus riefen sie beim Weißen Ring an, der Pfarrer fasse sie an, wo niemand sie anfassen sollte, sagten sie aufgeregt. "Die taten das als Jungenstreich ab", erinnert sich Hildebrandt. Die Ministranten behielten ihr Wissen daraufhin für sich. Nicht einmal ihren Eltern konnten sie etwas erzählen.

"Ist das alles überhaupt passiert? Vielleicht war es gar nicht so schlimm?" Im Tante-Emma-Laden gegenüber der Kirche spricht die betagte Inhaberin aus, was viele im Ort denken. Sie habe doch die Pfarrhaushälterin gekannt, eine anständige Person, die zu Besorgungen einfach über die Straße kam. "Die hätte bestimmt was gesagt, wenn ihr was aufgefallen wäre."

Ein Pfarrer brachte den Missbrauch 1991 schließlich ans Licht, mehrere Opfer hatten sich an ihn gewandt. Bei der Erzdiözese Freiburg war damals Robert Zollitsch Personalreferent, 2008 wurde er zum Vorsitzenden der deutschen Bischofskonferenz gewählt, wurde oberster Katholik in Deutschland. "Wir haben den Pfarrer vorgeladen und ihn mit den Gerüchten konfrontiert", schrieb er in einem öffentlichen Brief. "Er war nicht geständig, konnte aber den Verdacht auch nicht zerstreuen."

Ermittelt wird nur kurz: Der Pfarrer erhängt sich im Altenheim

Drei Tage später musste Franz B., damals 60 Jahre alt, die Pfarrei St. Gallus verlassen und in ein Altenheim umziehen – angeblich krankheitshalber. Man habe von ihm strenge Exerzitien verlangt, die Aufnahme einer therapeutischen Begleitung und Verzicht auf Kontakte mit Menschen aus Oberharmersbach. Weder wurde die Gemeinde aufgeklärt noch Anzeige erstattet. Im Gegenteil: Nachdem er vorzeitig in den Ruhestand versetzt worden war, erhielt B. noch die Ehrenbürgerwürde von Oberharmersbach. Angeblich konnte er sogar im Heim noch Kinder missbrauchen, die Eltern aus seiner Pfarrgemeinde zu Besuch vorbeibrachten.

Das Schweigen hat ein Ende, als Hildebrandt 1995 zur Polizei ging. Seine Gesangslehrerin hatte ihn darauf angesprochen, ob er sexuell missbraucht worden sei. Er begann, über das Erlebte im Pfarrhaus zu sprechen, über die Wochenenden, als sie zu dritt Franz B. in seine Ferienwohnung beim Schluchsee begleiten mussten. Sonntagfrüh halfen die Ministranten im Gottesdienst, den Rest des Wochenendes waren sie ihm und seiner Pädophilie ausgeliefert, sagt Hildebrandt. Das Schreiben der Staatsanwaltschaft Offenburg hat der 47-Jährige sorgfältig in einem Ordner abgeheftet. "Ermittlungsverfahren gegen Franz B. wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern". Ermittelt wurde nur kurz. Am 4. August 1995 erhängte sich Franz B. im Heim.

Statt Gerechtigkeit erhielt Hildebrandt wütende Drohungen. "Du hast den Pfarrer in den Tod getrieben", wurde ihm im Ort vorgeworfen, in manchen Geschäften bedienten sie ihn nicht mehr. Bis heute hat er das Gefühl, die Kirche habe ihn und die anderen Opfer im Stich gelassen. Nur der Täter sei geschützt worden.

Einer der wenigen, der offen redet über das Versagen der Kirche, ist Alfred Haas, pensionierter Pfarrer; er ist zurückgezogen in seinen Geburtsort Oberharmersbach. "Ich schäme mich", sagt der 78-Jährige, dessen eigener Neffe missbraucht wurde. "Zollitsch hat dem Nachfolgepfarrer in Oberharmersbach nichts gesagt", selbst der beerdigende Pfarrer habe nichts von den Vorfällen gewusst. Alles war tabuisiert, stellt Haas fest. "Dabei hat der Tote bis heute Macht über die Opfer."

Das Gefühl der Enge befällt Raphael Hildebrandt immer wieder. In Stresssituationen spürt er den Druck auf den Brustkorb. Vieles gibt ihm Halt. Er hat eine dreijährige Tochter, einen Job als Servicetechniker für Steuerungsanlagen, der ihn quer durch Deutschland reisen lässt, und er ist Vorsitzender des Gesangsvereins Frohsinn Oberharmersbach. In Anerkennung des erlittenen Leids hat er von der katholischen Kirche eine Überweisung bekommen. Zu wenig, findet Hildebrandt.

Ende November trifft er Erzbischof Stephan Burger, der seinem Amtsvorgänger Robert Zollitsch vorwirft, im Fall Oberharmersbach die Aufarbeitung behindert zu haben. Personalakten seien verschwunden. Wiederholt habe es in den Unterlagen Manipulationen gegeben. "Allzu viel erwarte ich mir nicht, wir sind von der Kirche zu oft hingehalten worden", sagt Hildebrandt. Trotzdem ist er froh, dass er Gehör findet, dass die Kirche sich endlich fragt: "Was passiert mit den Opfern?"