Robert Rentschler hat mit weiteren Interessierten die Einrichtungen der Nethanja-Kirche in Indien besucht. Foto: privat

Faszination zwischen Armut und Zwangsehe. Gemeindeabend am 16. Februar mit Robert Rentschler.

Neubulach/Indien - Eine Brücke von Neubulach nach Indien: Der ehemalige Vorsitzende des CVJM in Neubulach, Robert Rentschler, steht seit Jahrzehnten in engem Kontakt zum Verein "Kinderheim Nethanja Narsapur – Christliche Mission Indien". Erneut hat er nun mit weiteren Interessierten die Einrichtungen der Nethanja-Kirche in Indien besucht.

An einem Gemeindeabend am Freitag, 16. Februar, ab 19.30 Uhr im evangelischen Gemeindehaus in Neubulach berichtet er von seinen Erlebnissen.

Zum zweiten Mal waren Sie jetzt in Indien – haben Sie nach der Rückkehr erst mal Fernweh oder sind Sie froh, wieder in der Heimat zu sein?

Trotz der Freude über die gewohnte Umgebung brauchten Gefühle und Erinnerungen noch eine gute Zeit, um wirklich wieder hier anzukommen. Indien ist mit seiner Vielfalt und der Lebensart einfach eine ganz andere Welt. Reich und arm liegen oft sichtbar dicht nebeneinander. Fortschritt und Moderne – hauptsächlich in den Städten – und jahrhundertealte Lebensweisen insbesondere in ländlichen Bereichen sind für uns total krasse, andererseits aber auch faszinierende Gegensätze. Und überall freilaufende heilige Kühe, herrenlose Hunde und anderes Getier. Vom chaotischen Straßenverkehr und dem Schmutz neben den "Straßen" ganz zu schweigen.

Was hat sich in den Einrichtungen von Nethanja gegenüber Ihrem vorherigen Besuch 2015 verändert?

In annähernd allen Arbeitszweigen wurden in den vergangenen Jahren Gebäude renoviert, teilweise erweitert oder neu erstellt. Insbesondere wurden viele kleine Dorf-Holzkirchen durch fest gemauerte Kirchlein ersetzt. Im Krankenhaus in Kondola wurde eine "neue" OP-Einrichtung installiert, die aber unserem Stand von vor zehn Jahren entspricht. Kinderdörfer wurden mit neuen Toiletten-und Duschgebäuden ausgestattet und Schulen auf einen höheren Standard gebracht. Generell unternimmt auch der Staat gewaltige Anstrengungen, um dem Schmutz hauptsächlich in den Städten Herr zu werden und überall bessere hygienische Verhältnisse zu schaffen.

Wie ist es, als Christ in Indien einer Minderheit anzugehören? Funktioniert das Nebeneinander verschiedener Religionen?

In Indien leben mehr als 1,3 Milliarden Menschen. Davon sind etwa 80 Prozent Hindus, 20 Prozent Moslems und knapp drei Prozent Christen. Die Christen haben immer wieder mit Benachteiligungen – in den ländlichen- und Dschungelgebieten sogar mit Verfolgung – zu kämpfen. Das Nebeneinander funktioniert in den großen Städten am ehesten, da es da ähnliche religiöse "Gleichgültigkeit" gibt wie bei uns. Allerdings will die Regierung aus Indien zunehmend einen Hindu-Staat machen und sieht das Wachsen der christlichen Kirchen nicht so gerne.

Offiziell ist das Kastensystem seit fast 70 Jahren abgeschafft – gehört es wirklich der Vergangenheit an?

Leider wird an den Traditionen, die vom Kastenwesen herrühren, noch in breiten Bevölkerungsschichten unverändert festgehalten. So werden die Menschen immer noch in Gruppen sehr unterschiedlicher gesellschaftlicher Geltung aufgeteilt. Die Untersten, die "Kastenlosen", gelten zum Beispiel immer noch nicht als vollwertige Menschen.

Wie reagieren die Inder der unteren sozialen Schichten auf den Besuch von weißen Europäern?

Wie die Reaktionen außerhalb der von uns besuchten christlichen Einrichtungen sind, vermag ich ehrlich nicht zu beurteilen. Wir wurden jedenfalls überall als "German Friends" willkommen geheißen und hoch geachtet. Gerade weil die unteren sozialen Schichten nicht viel gelten, ist es für diese Menschen eine große Ehre, von uns besucht und wertgeschätzt zu werden.

Warum ist ein von Nethanja eingerichtetes Mädchendorf in einer modernen Industrienation wie Indien heute immer noch so wichtig?

Es ist leider so, dass Frauen und Mädchen immer noch als Menschen zweiter Klasse gelten. Besonders in ländlichen Gegenden herrscht noch frühe Zwangsverheiratung, und Frauen müssen oft für die Versorgung der Familie schwer arbeiten. Mädchen gelten schon bei der Geburt als "Minus". Väter müssen der Tradition nach bei der Verheiratung von Töchtern eine ruinöse Mitgift bezahlen. Daher wird es eher als Strafe betrachtet, wenn man ein Mädchen gebärt. Das ändert sich sehr langsam – aber am ehesten da, wo sich moderne Industrie etabliert. Insbesondere die Mädchendörfer sind für viele überlebenswichtig, da es sich meist um Waisenkinder oder um Kinder handelt, die von ihren Eltern wegen Armut oder Krankheit nicht versorgt werden können. Oder ganz einfach, weil Vater oder Mutter gestorben oder der Vater verschwunden ist. In den Kinderdörfern erfahren die Kinder Liebe und Geborgenheit, sie erhalten eine gute Schulbildung und haben später gute Chancen, das neue Indien mitzugestalten.

Woran fehlt es den Einheimischen, die Sie getroffen haben, am meisten?

Diese Frage ist schwer zu beantworten. Menschen ohne Bildung finden kaum Arbeit und müssen um ihren Lebensunterhalt kämpfen. Andererseits war es schön zu hören, dass viele der Kinder, welche durch die Nethanja-Arbeit eine gute Schulbildung erhielten, in gute Berufe gekommen sind und somit ein Auskommen haben und sogar ihre Nethanja-Kirche unterstützen können. Auch die Ausbildungen zu Näherinnen, Mechanikern, Elektronikern, Krankenschwestern und anderen Tätigkeiten helfen dabei, Mängel zu beseitigen.

Was könnten wir Deutsche von den Indern noch lernen?

Auf jeden Fall etwas mehr Zufriedenheit und Gelassenheit. Wir in Deutschland wissen oft überhaupt nicht mehr, wie gut es hier die meisten Menschen im Blick auf Versorgung, Freiheit und Lebensumstände haben. Ironischerweise kommt die Gelassenheit vieler Inder oft aus der Akzeptanz der unausweichlichen Situation, welche die Kastenwesen-Tradition mit sich bringt.

Info

Heute unterhält die Nethanja-Kirche in Indien neun Heime für etwa 700 Kinder, davon zwei Dörfer für 200 Mädchen, die dort gewaltfrei leben können, sowie drei große Highschools mit etwa 1200 Jugendlichen.

Kleine Dorfschulen in abgelegenen Stammesgebieten gehören dazu, ebenso wie ein Zentrum für Menschen mit Behinderung, Berufsausbildungsstätten für Jugendliche und Erwachsene, ein Krankenhaus, drei Fachkliniken, medizinische Aufklärungs- und Basisarbeit in Dörfern sowie Hilfsprojekte für benachteiligte Menschen in Slums, etwa die Ermöglichung von Mikrokrediten für Frauen.Damit verbunden ist eine stetig wachsende christliche Gemeindearbeit. Zur evangelischen Nethanja-Kirche gehören inzwischen rund 1500 Gemeinden mit 120 000 sonntäglichen Gottesdienstbesuchern.

Angefangen hat diese Missionsarbeit 1962 mit dem Engagement von Vater Komanapalli, der zunächst fünf Waisenkinder in einem umgebauten Kuhstall in Narsapur unterbrachte. Dann wurde 1973 das Werk "Kinderheim Nethanja Narsapur" in Sindelfingen gegründet. Seither wuchs der Umfang des Werks unter der Leitung der vier Söhne von Komanapalli.

Der ehemalige Neubulacher CVJM-Vorsitzende Robert Rentschler hatte Bischof Singh Komanapalli, Leiter der Nethanja-Kirche in Südindien und einer der vier Söhne, bereits im Jahr 1985 während dessen Theologie-Studiums in Tübingen kennengelernt.