Essensausgabe in der Vesperkirche. Die Bedienungen lassen sich die Teller füllen. Die ehrenamtlichen Helfer tragen allesamt gelbe Schürzen. Foto: Fritsch

ACK gibt in Nagold Essen an Bedürftige. Ökumenischer Gottesdienst zum Beginn.

Nagold - Die nunmehr 5. Nagolder Vesperkirche hat begonnen. Am gestrigen Sonntag, mit einem ökumenischen Festgottesdienst ging’s los. In der vollbesetzten Nagolder Stadtkirche erlebte man Menschen, die sich mitreißen lassen von einer unfassbaren Energie in diesem Kirchenraum.

Irgendwie grenzt es an echter Magie: alle, ausnahmslos alle Menschen lächeln an diesem Vormittag in der Nagolder Stadtkirche. Keine Chance für Griesgrame. Es wird viel in den Arm genommen, viel gegenseitig geherzt. Pfarrer Reinhard Hauber wird nachher den Festgottesdienst mit den Worten eröffnen: "Ich habe viel Vorfreude bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern verspürt." Offenbar haben nicht nur sie sehnlichst auf dieses Gemeinschaftserlebnis gewartet. Alle hier glühen irgendwie.

Liebe ist ansteckend. Und viel zu selten eine Schlagzeile wert. Sie wird sichtbar, wenn einem auffällt, wie hier jeder ohne Ansehen der Person aufeinander achtet. Was der Gegenüber gerade braucht, sich wünscht. Hier werden viele, sehr viel Wünsche direkt von den Augen abgelesen – manchmal wortwörtlich: Annemarie zwei Stühle weiter – "man kennt mich aber nur als ›Anne‹" – putzt spontan dem Eugen ihr gegenüber am Tisch die Brille. Einfach so, weil sie bei ihrer eigenen gerade dabei war. "Wenn du gut siehst, ist es auch für uns gut", sagt Anne zu Eugen. Eine kleine Geste. Voller Größe. So sollten wir wohl immer miteinander umgehen.

Der Gospelchor Ebhausen, gemeinsam mit den Blackbirds Jettingen, unter der Leitung von Peter Eisele, singt das erste Lied des Gottesdienstes. Die kleine Besetzung zwar "nur" mit rund 50 Sängerinnen und Sängern – aber welche Wucht, wieder: welche Energie! "Wie muss das erst heute Abend werden, wenn die große Besetzung des Gospelchors mit 150 Leuten hier zum Benefizkonzert singen wird!?", raunt Eugen. Die Mauern werden beben. Noch mehr mitreißen. Noch mehr gemeinsame Euphorie verteilen an Arm und Reich, die hier gemeinsam an den festlich gedeckten Tischen sitzen. "Die Kirche ist heute Gasthaus – aber sie bleibt auch Gotteshaus", sagt Pfarrer Hauber. Und lädt nun zum gemeinsamen Singen ein. Annes Mann entgleitet der Geleitbogen zum Gottesdienst mit den Liedtexten. Jürgen bückt sich unter den Tisch, ihn für sein Gegenüber aufzuheben. Wieder so eine kleine große Geste.

Aber bei aller Euphorie, allem spürbaren Glück an diesem Vormittag an diesem Ort – die Vesperkirche hat einen ernsten Hintergrund. Es gibt sie, weil in unserer unfassbar reichen Gesellschaft die Armut um sich greift. Pfarrer Hauber ruft Norbert Weiser zu sich an den Altar, den Sozialdezernenten des Kreises Calw. Und fragt ihn nach den Dimensionen der Armut hier im Kreis. Es sind erschreckend hohe Zahlen, die Weiser nennt: 11 000 Menschen, die regelmäßig Sozialleistungen vom Kreis oder der Agentur für Arbeit hier erhalten. Aber es sei eigentlich weniger die wirtschaftliche Armut, die ihm Sorge bereitet, sagt Weiser. SGBII oder Hartz4 – damit ließe sich ein menschenwürdiges Leben darstellen. Jedoch gäbe es fast 1000 Familien im Kreis, in denen Kinder und Jugendliche wegen Vernachlässigung durch die Eltern von seinem Dezernat betreut werden müssten – mit steigender Tendenz. "Das bereitet mir echte Sorgen."

Womit Hauber – mit einem Blick in den weiten Kirchensaal, in dem auch Nagolds Oberbürgermeister Jürgen Großmann an einem der festlich gedeckten Tische Platz genommen hat – Norbert Weiser nach der wachsenden Wohnungsnot im Kreis befragt. Hauber: "In Nagold wird viel gebaut, aber nur reiche Menschen können sich diese neue Wohnungen leisten." Wo blieben die vielen Fördermilliarden, die der Bund doch für den sozialen Wohnungsbau ausgebe.

Der OB verzieht für einen fast unsichtbaren Moment schmerzlich das Gesicht. Norbert Weiser antwortet: Im gesamten Kreis gebe es aktuell 90 freie Wohnungen, eine lächerlich geringe Zahl. Auch, weil immer Menschen aus den Ballungszentren Karlsruhe, Pforzheim und Stuttgart in den Nordschwarzwald drängten – weil sie vor noch schlimmeren Situationen dort flüchteten. Aber er sehe "einen Silberstreif am Horizont", sagt Weiser. Der natürlich um die Problematik weiß, dass die hohen, in Deutschland geltenden Bauauflagen als Kostentreiber billigen Wohnraum eigentlich durchgängig verhinderten.

Aber just am Vortag seien in Bad Liebenzell gleich zwei sogenannte "Hoffnungshäuser" eröffnet worden für eben Sozialbenachteiligte – die mit leicht abgesenkten Bau-Standards auf einmal doch kostendeckend errichtet werden konnten. "Das ist sicherlich ein vernünftiger, guter Weg", sagt Weiser. "Ich habe Hoffnung." Und dann setzt sich Weiser wieder als einer der Honoratioren des Tages ausgerechnet direkt neben OB Großmann, der sofort den Kopf mit diesem zusammensteckt und intensiv flüstert. Vielleicht darüber, nicht immer nur darüber zu reden – auch in Nagold – was im sozialen Wohnungsbau alles derzeit nicht geht; sondern nach echten Wegen zu suchen, wie es dann doch einmal und trotzdem "gehen" kann.

Dann würde dieser unfassbare Spirit der Vesperkirche auf eine auf einmal sehr tolle Weise auch nach diesen 14 Tagen Euphorie im Alltag der Menschen ankommen. Arm und Reich, nicht nur zwei Wochen lang an einem Tisch. Ein Leben lang in einem Quartier. Gemeinsam. Damit keiner einsam und arm ist in einem der reichsten Länder der Erde. Und man lächelt wieder in der Stadtkirche. Dieser tolle Gospelchor singt. Und bekommt – Gottesdienst hin oder her – endlich seinen verdienten, donnernden Applaus.

Und gemeinsam gegessen wird natürlich auch noch. Kartoffelsuppe mit Croutons. Kalbsrahmragout mit Gemüse und Spätzle; für die Vegetarier stehen Ravioli mit Oliven, Feta und Pinienkernen auf der Speisekarte. Lecker. Es wird bedient. Und gedient. Hier zahlen wohl sehr viele echtes Guthaben auf ihrem "Karma-Konto" ein. Wie hatte Diakon Bernd Schmelzle noch in seinem Fürbitte-Gebet gesagt? "Es ist unerträglich, dass sonst" – wenn nicht gerade Vesperkirche ist – "so viele Menschen in Not abseits stehen." Ja, das ist es.