Blumen und Kerzen liegen als Zeichen der Trauer an der Landstraße 361 zwischen Nagold und Mötzingen. Am 11. August war dort ein Müllwagen auf ein Auto gekippt. Fünf Menschen starben. Foto: dpa

Sachverständiger sieht keinen schlüssigen Beweis. Zeuge schildert Fahrt des Müllwagens.

Nagold/Tübingen - Überraschende Wende im Müllwagenprozess: Hat eine Vesperdose bei dem schrecklichen Unfall, der sich am 11. August 2017 bei Nagold ereignete, eine entscheidende Rolle gespielt? Auf diese Hypothese baut die Verteidigung ihre Strategie auf.

Beim zweiten Prozesstag vor der zweiten Großen Strafkammer des Landgerichts Tübingen rückte die unscheinbare Tupperdose mit dem roten Deckel in den Fokus. Das Behältnis gehörte dem Beifahrer von Johann J. Der Fahrzeuglenker soll schuld am Tod von fünf jungen Menschen sein, die an diesem sonnigen Augusttag vergangenen Jahres zur falschen Zeit am falschen Fleck waren und unter dem Müllwagen begraben wurden.

Rutschte diese Vesperbox nur wenige Sekunden vor dem Unfall von der Mittelkonsole und fiel in den Fußraum des Fahrers, wo sie das Bremspedal blockierte? Auch der Sachverständige vom Landeskriminalamt, der in einem physikalischen Gutachten dieser Frage nachging, wollte diese Möglichkeit aufgrund von Antragsspuren an der Dose nicht ganz verneinen: "Die passt exakt unters Pedal." Aber einen schlüssigen Beweis gebe es dafür nicht.

Eine Darstellung des Angeklagten würde diese Hypothese stützen: Johann J. hatte am ersten Prozesstag mehrfach beteuert, dass mit der Bremse "etwas nicht stimmte". Der Kfz-Sachverständige hatte an dem Unfallfahrzeug aber keine technischen Mängel festgestellt.

Dafür brachte der Gutachter andere Details ans Licht: Anhand der GPS-Daten und des digitalen Kontrollgeräts im Fahrzeug konnte er die letzten Kilometer des Müllwagens genau rekonstruieren. Demnach übernahm der 55-jährige Angeklagte wenige Minuten vor dem Unfall das Steuer, fuhr durchs Nagolder Industriegebiet Wolfsberg, wo er einen kurzen Halt einlegte, damit sein Beifahrer besagte Vesperdose aus einer Tasche holen konnte. Dann fuhr er die kurvige, abschüssige Straße zum Autobahnzubringer hinunter. Anfangs noch mit angepasster Geschwindigkeit.

Beifahrer will nichts Ungewöhnliches wahrgenommen haben

Aber "ab einem Punkt", erklärte der Unfallanalytiker Frank Rauland, "war die Geschichte vorgeschrieben". Das Fahrzeug beschleunigte, wie die Datenerhebung ergab, vor einer scharfen Linkskurve vier Sekunden lang auf mehr als Tempo 50. Der Fahrer hätte noch geradeaus in eine Wiese fahren können, steuerte aber stattdessen den wankenden 20-Tonnen-Koloss durch die scharfe Kurve.

Ein Zeuge schilderte vor Gericht, wie der Müllwagen "in Schlangenlinien" Richtung der viel befahrenen Landesstraße 1361 trudelte. Der Beifahrer will indes nichts Ungewöhnliches wahrgenommen haben: "Das ging unheimlich schnell. Ich habe gerade gegessen."

Kurz vor der Kreuzung wankte der Müllwagen laut Gutachter von der einen auf die andere Seite. Bei einer Vollbremsung wäre der Wagen seiner Meinung nach umgekippt.

So fuhr Johann J. mit seinem nicht mehr beherrschbaren 20-Tonner auf die Vorfahrtsstraße, wo ihm auf der Gegenfahrbahn ein Auto mit fünf jungen Menschen entgegenkam. "Ein Bruchteil einer Sekunde – und sie wären durch gewesen", meinte Rauland. Es blieb ihnen ab dem Moment, als der Müllwagen den Zubringer erreicht hatte, aber nur eine Sekunde Zeit. Zu wenig, um reagieren zu können. Dann kippte das strauchelnde Fahrzeug um und begrub das Auto mit den fünf jungen Menschen unter sich.

Wobei der Unfallsachverständige eine technische Ursache nochmals definitiv ausschloss. Entweder sei es ein Fehler beim Bedienen des Tempomats gewesen, der zur plötzlichen Beschleunigung des Müllwagens führte – oder aber die unscheinbare Vesperdose habe in diesem Fall eine tragische Rolle gespielt.

Das Gericht will am 19. März sein Urteil fällen.