Das Pferd Saint Boy von Annika Schleu verweigert beim Olympia-Fünfkampf in Tokio den Sprung. Foto: Murat

Fünfkämpferin Annika Schleu traktiert ihr Wettkampfpferd mit der Gerte. Das Tier verweigert, will nicht weiter. Hier stellen sich grundsätzliche Fragen.

Donaueschingen - Die Bilder von Annika Schleu, wie sie bei Olympia in Tokio mit verzweifelter Miene versucht, das ihr zugeloste Pferd unter Kontrolle zu bringen, sind international bekannt geworden. Was mit der öffentlichen Diskussion um den Fall einhergeht: Oft wird der gesamte Pferdesport pauschal in einen Topf geworfen und kritisiert. Der Pferdesport spielt auch im Donaueschinger Jahreskalender eine große Rolle. Sei es beim großen Reitturnier oder beim Fest der Pferde auf den Immenhöfen. Wie sehen Pferde-Experten von hier die aktuelle Diskussion rund um das Ereignis bei Olympia?

"Der Moderne Fünfkampf hat nichts mit meinem Sport zu tun. Außer, dass Pferde involviert sind", erklärt Ralph Clasen-Hoffmann. Er ist Pferdewirtschaftsmeister und für die Fédération Equestre Internationale (FEI), die internationale Dachorganisation des Pferdesports, als Chef-Steward beim großen Donaueschinger Reitturnier tätig. Stewards organisieren und haben die Pflicht, zu kontrollieren, dass alles zum Wohle der Pferde getan wird.

Fünfkampf besitzt eigene Dachorganisation

Auf den Fünfkampf habe aber etwa die FEI – und auch der nationale Pferdesportverband – keinen Einfluss: "Der Verband hat keinen Zugriff", sagt Clasen-Hoffmann. Der Moderne Fünfkampf besitzt eine eigene Dachorganisation. Dort sei der Stellenwert des Pferdes ein anderer: "Beim Fünfkampf ist das Pferd leider schon eher ein Sportgerät." Die olympische Disziplin entstamme militärischen Übungen, bei denen die Soldaten (Reiter) eine entsprechende Ausbildung hatten. Eine Eigenart beim Modernen Fünfkampf ist es, dass der Reiter per Los ein ihm bislang unbekanntes Pferd bekommt. Daher auch der Vorwurf vieler Pferdesportverbände, das Tier sei hier eher Sportgerät.

"Heute sind es im Fünfkampf keine Soldaten mehr, sondern alles Zivilpersonen", sagt Clasen-Hoffmann. Eine entsprechende Ausbildung, wie sie etwa die Reiter beim Donaueschinger CHI besitzen, gebe es dort nicht: "Die deutsche Reiterin Annika Schleu hat meines Wissens nach keinen Reitausweis. Sie reitet sonst wohl keine Turniere." Mit dem Pferd werde lediglich in Vorbereitung auf den Wettkampf trainiert. Hätte sich ein Reiter mit Ausweis in der Situation anders verhalten? "Er hätte anders reagiert", sagt der Steward. Das Pferd bei Olympia sei schon weit vor der Startlinie zurückgewichen: "Das Pferd wollte nicht. Und wäre die Bundestrainerin vom Fach, dann hätte sie zu Annika Schleu gesagt: Reite raus!" Die Situation sei aufgrund der Bedingungen noch schlimmer geworden: Auf dem vom Regen aufgeweichten Rasen rutschte das Pferd weg, was zusätzliche Unsicherheit gebracht habe.

Dennoch bricht Ralph Clasen-Hoffmann eine Lanze für Schleu: "Ich übe die Kritik nicht an der Reiterin. In der Situation muss man erst mal sein. Im Rampenlicht, die Goldmedaille vor Augen. Sie wurde Opfer ihrer eigenen Sportart. Mir tut sie leid. Der Druck war hoch und der geht im Endeffekt dann gegen das Pferd." Das Ergebnis sei die Folge der unglücklichen Start-Situation gewesen: "Man hätte gleich hier sagen sollen: Lass es!" Schließlich war das Pferd mit der vorigen Konkurrentin schon einmal ausgeschieden. Beim Springreiten hätte man anders reagiert. Als Beispiel nennt Clasen-Hoffmann den deutschen Springreiter Daniel Deußer. Hier verpasste das Team eine Medaillenchance, weil der 39-Jährige abbrach, nachdem das Pferd verweigert hatte: "Es war die richtige Entscheidung, dass er aufgegeben hat im Sinne des Pferdes", sagte Bundestrainer Otto Becker anschließend im Fernseh-Interview.

Wenig Verständnis für Prinzip des Leih-Pferdes 

Umso weniger Verständnis hat Clasen-Hoffmann dafür, dass jetzt sämtliche Sportarten mit Pferd in einen Topf geworfen werden: "Das ist eine Katastrophe." 90 Prozent der Leute aus dem Pferdesport seien der Meinung, diese Komponente gehöre aus dem Fünfkampf entfernt. "Die Sportler haben einen eigenen Degen, eine eigene Pistole, die eigenen Laufschuhe, die eigene Badehose, aber ein fremdes Pferd."

Ähnlich sieht das Claus Steidinger von der Reitanlage am Sickenbühl. "Diese Reiter trainieren auch. Allerdings ist es nicht nachvollziehbar, warum sie nicht ihre eigenen Pferde benutzen", sagt der ehemalige Springreiter und Reitlehrer. Das Pferd in Tokio sei bereits beim ersten Durchgang fertig gewesen: "Es war über der Uhr, sagt man bei uns." Organisation oder Richter hätten das Tier beim ersten Umlauf rausschicken müssen. "Ich bin der Meinung, Pferde haben beim Modernen Fünfkampf nichts verloren."

Auf Turnieren sperrten Richter einen Teilnehmer bei falschem Einsatz der Gerte sofort. "In Tokio hätten die Veranstalter sagen müssen: Dieses Pferd darf nicht laufen. Aber es geht ums Geld und schließlich immer zu Lasten des Tieres." Das Pferd, so Steidinger, werde mit der Sache länger zu kämpfen haben als die Reiterin. Er hofft, dass man zumindest in Deutschland nun sagt: "Wir machen da nicht mehr mit." Die Reiter sollten ihre eigenen Pferde benutzen dürfen. "Ansonsten sollen sie beim Fünfkampf eben Moped fahren."

Bei Pferden geht es um Vertrauensbasis

Bei Pferden gehe es um eine Vertrauensbasis, so Steidinger: "Es ist schon hundertmal bewiesen, dass absolutes Vertrauen notwendig ist. Auch bei den Dressuren. Das ist Hochleistungssport für die Tiere. Wenn bei mir eine Reitschülerin und ihr Pferd zusammen nicht funktionieren, dann gehen sie auch auf kein Turnier." Beim Fünfkampf habe es schon immer unschöne Bilder gegeben: "Wenn ein Pferd nicht mehr in der Lage ist, weiterzumachen, dann nutzt auch das Draufhauen nichts."

Dass verallgemeinert gegen den Pferdesport geschossen werde, passiere in solchen Fällen fast immer: "Es gibt in jedem Sport schwarze Schafe. Aber für alle Sportler im Bereich Pferdesport sind die Tiere Kollegen. Man trainiert zusammen und kommt zusammen ans Ziel. Da steckt auch die Gesund-Erhaltung dahinter", so Steidinger. "Die Leute sollten mal sehen, wie es in einem Profistall zugeht." Täglich seien die Tiere draußen und bewegten sich kontrolliert: "Das hat nichts mit Tierquälerei zu tun. Ein Pferd bewegt sich jeden Tag zwischen 16 und 20 Kilometer. Wenn das Tier das nicht will, dann geht das auch nicht."