Die Mailänder Künstlerin Grazia Varisco in ihrem Atelier, 1961/1962. Foto: Museum Ritter

Die Allianz aus Forschen, Bewahren und Sammeln gilt als Grundlage musealer Arbeit – und wird doch all zu oft durch den Hunger des Publikums nach großen Ausstellungen überlagert. Das Museum Ritter in Waldenbuch zeigt mit Grazia Variscos „Mit rastlosem Blick“ und „Licht. Kunst. Kinetik“ aus der Sammlung Marli Hoppe-Ritter aktuell, wie sich Forschung und Präsentation bedingen können.

Obwohl Grazia Varisco sich schon 1960 der Gruppo T anschloss, der Mailänder Künstlervereinigung, die ähnlich wie Zero in Düsseldorf oder die Pariser Groupe de Recherche d’Art Visuel in Licht und Kinetik Zukunftsfelder der Kunst erblickte, war von der Mailänder Künstlerin in Deutschland so gut wie nichts zu sehen. Jetzt holt die Kuratorin Hsiaosung Kok im Museum Ritter das Versäumte nach und zeigt unter dem Titel „Mit rastlosem Blick“ eine retrospektive Werkauswahl. Ergänzt wird die Schau von rund sechzig Werken aus der Sammlung Marli Hoppe-Ritter, die sich demselben Thema widmen: „Licht. Kunst. Kinetik“.

Neben vielen Klassikern der Richtung ist auch einiges Neue zu entdecken. „Diese Kunst kennt keinen Stillstand“, heißt es in Waldenbuch.

Wie sehr Bewegung eine Rolle spielt, wenn es um Wahrnehmung geht, demonstrieren etliche unter Grazia Variscos Werken. Gerne machte sie von gewelltem oder sonst strukturiertem Industrieglas Gebrauch. Was immer durch die optischen Widerstände hindurch gesehen wird, wirkt verzerrt und verfremdet. Doch auch die Bewegung des Betrachters vor dem Objekt verändert das Bild.

So wenig das in einer dreidimensionalen Welt überraschen sollte, die bei jedem Schritt, den man macht, anders aussieht, so unerwartet wirkt der Effekt bei Bildern, die eigentlich die Welt unbewegt zeigen. Früher kannte Kunst durchaus Stillstand. Jetzt, wo versteckte Motoren für – meistens rotierende – Bewegung sorgen, lässt sich das Wunder ineinander übergehender, sich durchdringender Würfel oder dauernd veränderter Farbmuster genießen.

Mit der Zeit gehen wohl auch die Künstler der europäischen Lichtkunst und Kinetik

Trotzdem entkommt der Betrachter den Hinweisen auf die Relativität seiner Eindrücke nicht so leicht. Durch fünf nebeneinander, aber allesamt schief aufgehängte Rahmen ist eine rote Schnur gespannt. Außerhalb der Rahmen unterbrochen, bildet sie einen wie durch fünf Fenster gesehenen Horizont. So liefert sie den Nachweis, wie leicht unser Sehen der Gewohnheit beziehungsweise der Erwartung vertraut. Nimmt man nämlich die Rahmen ernst, ist keine der roten Linien horizontal.

Als unzuverlässig erweist sich visuelle Wahrnehmung auch dort, wo eine Fläche in den Raum hinein gefaltet ist wie bei einem großen Wandrelief aus Aluminium. Aus welcher wohl geometrischen Figur es sich entfaltet, ist nur schwer abzuschätzen. Ähnlich stark verfremdet erscheint ein Quadrat aus flachen Stahlschienen, das an den Kanten einer Ecke des Museumsraums gebrochen wird. Nicht weit davon wirft eine diagonal verteilte Reihe von Faltobjekten Schatten auf die Wand: „Gnomoni“ heißen die und spielen auf griechische „Schattenzeiger“ an, die den Tag über wandern, also mit der Zeit gehen.

Mit der Zeit gehen wohl auch die Künstler der europäischen Lichtkunst und Kinetik, die im Obergeschoss des Museums Ritter versammelt sind und von Marli Hoppe-Ritter und Barbara Willert ausgewählt wurden. Obwohl die Auswahl bis in die späten 1950er Jahre zurückreicht und die Kunstrichtung längst historisch ist, ist mancherlei Neues zu entdecken. Schub erhalten die Neuerer von zumeist elektronischen Novitäten. Anders als das Klischee es will, sind nicht die Künstler im Besitz des Monopols auf Kreativität. Es ist vielmehr die Technik, die der künstlerischen Verwendung den Weg bereitet.

Was hält das Billardspiel bei David Fried in Bewegung? Sein Titel „SOS“ meint „Self Organisizing Still Life“, erklärt nur nicht viel. Um das Schauspiel zu genießen, muss man seine innere Mechanik aber nicht unbedingt verstehen. Auch Manfred Mohrs „Klangfarben“, die unentwegt Formen und Farben ändern, lassen sich problemlos bestaunen, ohne die Algorhythmen dahinter zu kennen.

Noch ist der Globus nicht aus den Fugen

Der Reiz von „Licht. Kunst. Kinetik“ liegt in den visuellen Sensationen, welche die Objekte einem bescheren. Im Raster gruppierte Hohlspiegel vervielfachen und verzerren, was sie reflektieren. Woanders bewegen sich kleine Spiegel. Wieder andere Objekte öffnen mit Spiegeln virtuelle Räume. Wo sich nichts spiegelt, flackern vom Zufall gesteuerte Lichter, bewegen sich rhythmisch oder rotieren. Da gehen Farben mystisch ineinander über und spielen Chamäleon. Dort erschreckt der „Quadrosound“ des von Walter Giers programmierten Kastens mit Tönen wie aus Down Under. Dabei gehorcht doch fast alles einem an Rastern, am Quadrat oder am Würfel orientierten Programm und einer Art Ordnung. So spielen „Die zwölf Seiten des Quadrats“, zwölf von François Morellet entfesselte Neonröhren, vermutlich nur zum Schein verrückt. Sein Kugelobjekt aus einem dreidimensionalen Quadratgitter überzeugt.

Noch ist der Globus nicht aus den Fugen. Die Behauptung rationaler Kontrolle bleibt bestehen. Der Genius loci des Hauses will das vielleicht. Doch muss in jeder Ordnung ein Stachel stecken, der sie nicht in Frieden ruhen lässt. Fast aufregend demonstriert das der aufrechte weiße Kubus von Sebastian Hampel. Unversehens scheren Schichten aus der Ordnung der vier Kanten des Pfeilers aus, beginnen zu rotieren, eine jede anders als die Nachbarn, sodass man nicht einmal mehr sicher ist, dass es quadratische Teile sind, die da kreiseln. Nicht minder subversiv muten zwanzig Pendel vom selben Künstler an. Unerwartet legen sie einen Blitzstart hin, steigern ihr Hin und Her zu perfekter Formation und Anmut, ehe sie endlich zur Ruhe kommen. Sicher ist man vor nichts.

Zu sehen sind beide Ausstellungen im Museum Ritter in Waldenbuch, Alfred-Ritter-Straße 27, bis zum 27. April 2014. Geöffnet : Di bis So 11 bis 18 Uhr.