Bei Mischverkehrsflächen gibt es keinen Schilderwald mehr. Foto: StN-Grafik: Klos, Quelle: Fotolia

Wenn niemand so recht weiß, wer Vorfahrt hat, sind Auto- und Fahrradfahrer aber auch Fußgänger vorsichtiger. So lautet die Idee von Mischverkehrs-flächen. Und tatsächlich fließt der Verkehr ohne Behinderung – allerdings nicht ganz so, wie von Planern gedacht.

Bohmte/Stuttgart - Keine Ampeln, keine Verkehrsschilder, keine abgetrennten Bordsteine: Und dennoch freie Fahrt für Radler und Autofahrer. Dazu kommen noch die Fußgänger. Dass ein solch ungeregeltes Miteinander funktioniert und nicht zu einem unfallträchtigen Gegeneinander wird – daran glauben die Anhänger von Mischverkehrsflächen, auch Shared Space genannt.

Wenn niemand so recht weiß, wer Vorfahrt hat, fahren automatisch alle vorsichtiger. Das ist die Hoffnung, die mit radikal entschlackten Straßen verbunden wird. In den Niederlanden, dem Ursprungsland dieser Idee, hat sich das Konzept vielerorts durchgesetzt, während in Deutschland weiter der Schilderwald wuchert.

Zumindest in Stuttgart wurde nun versucht, diesen ein wenig zu lichten: Mitten im Stadtkern wurde in der Tübinger Straße der Bürgersteig eingeebnet, es gibt keine Parklücken mehr – denn Parken ist grundsätzlich nicht erlaubt. Auch auf Zebrastreifen wurde verzichtet. 1,2 Millionen Euro hat der im November 2012 geschaffene Freiraum gekostet. Doch noch hapert es mit der gegenseitigen Rücksichtnahme: Vor allem die Falschparker und Raser machen den Kontrolleuren der Stadt zu schaffen. Ein Problem, das sich nach Meinung der städtischen Ämter aber mit der Zeit geben wird – wenn das Konzept mehr in den Köpfen der Leute angekommen ist.

„Der Verkehrsfluss hat sich verbessert, es gibt überhaupt keinen Stau mehr“

Es wird erst einmal eine Hoffnung bleiben. Denn ob Mischverkehrsflächen funktionieren oder nicht, kann keiner so recht sagen. Auch nicht in Bohmte. Die niedersächsische Kleinstadt im Landkreis Osnabrück in Niedersachsen nahm vor vier Jahren als erste deutsche Stadt am Shared-Space-Projekt teil – und hat auf 400 Meter ihrer Hauptstraße die Voraussetzungen für ein gleichberechtigtes Miteinander geschaffen: „Der Verkehrsfluss hat sich verbessert, es gibt überhaupt keinen Stau mehr“, sagt Bohmtes Gemeinderätin Sabine de Buhr-Deichsel.

Der Verkehr fließt tatsächlich ohne Behinderung – allerdings nicht ganz so, wie sich das die Planer vorgestellt haben. Statt besonders vorsichtig zu fahren, rauschen die Autos mit normaler Geschwindigkeit über die Straße. Kam es vor der Umgestaltung im Jahre 2007 noch zu acht Unfällen im besagten Abschnitt, waren es ein Jahr später 13. Den reinen Blick in die Statistik empfindet de Buhr-Deichsel aber als wenig aussagekräftig: „An dieser Straße liegt auch direkt unser Kindergarten. Wenn es gefährlich wäre, hätte es längst einen Aufstand gegeben.“

Auch unter Experten ist man sich nicht über Sinn und Unsinn von Mischverkehrsflächen einig. So plädiert der ökologisch ausgerichtete Verkehrsclub Deutschland (VCD) für mehr Modellprojekte. Der autofreundliche ADAC hingegen erkennt im Shared Space nach eigener Aussage „kein Allheilmittel“.

Unklarheit im Kreisverkehr

Für Kinder, Senioren und behinderte Menschen sei es am schwierigsten, sich gegenüber den motorisierten Verkehrsteilnehmern durchzusetzen. Noch schlechter ergeht es offenbar Radfahrern. Sie kommen laut einer ADAC-Umfrage am wenigsten mit der gemeinsam genutzten Fahrbahn klar. Der Gesamtverband der Deutschen Versicherer (GDV) sieht im Shared Space daher allenfalls eine „Nischenlösung“, deren Wirksamkeit sich erst noch beweisen müsse – eben weil belastbare Untersuchungen noch fehlen.

Dabei sind die reinen Unfallzahlen nicht die einzige Sache, über die sich Versicherungen den Kopf zerbrechen: Was passiert zum Beispiel, wenn es im Rondell in Bohmte kracht? Da kein Verkehrsschild einen Kreisverkehr ausweist, müsste eigentlich „rechts vor links“ gelten – oder doch nicht? „Darüber sind sich bei uns selbst die Fahrlehrer und die Polizei nicht einig“, sagt Bohmtes Bürgermeister Klaus Goedejohann. „Wie das die Gerichte sehen, wissen wir wohl erst, wenn es kracht. Aber wir hoffen natürlich, dass es nie so weit kommt.“

Doch nicht alle beurteilen die Lage so pessimistisch. Wolfgang Bode, Professor für Transport und Verkehr an der Hochschule Osnabrück, hat die Bohmter nach ihren Erfahrungen mit Shared Space befragt. In einer repräsentativen Zufriedenheitsanalyse kommt er zu dem Schluss, dass die Mehrheit der Befragten mit der schilderlosen Straße glücklich ist. „Das Ziel, Sicherheit durch Unsicherheit zu erreichen, wurde erfüllt“, sagt Bode. Dennoch spricht auch er sich dafür aus, die schwachen Verkehrsteilnehmer besser in die Planungen einzubeziehen.

Dass die Autos in Bohmte auf der gemeinsam genutzten Fahrbahn kaum noch abbremsen, führt der Verkehrswissenschaftler auf den Gewohnheitseffekt zurück: „Da hilft es nur, immer mal wieder etwas an der Optik zu verändern, zum Beispiel die Farben oder die Linienführung auf dem Boden.“

In Stuttgart sind die Behörden wieder in altbekannte Muster verfallen: Kurz nach der Eröffnung ihrer Mischverkehrsfläche wurde eine große „20“ auf den Asphalt gemalt – als Hinweis auf das Tempolimit. Auch Halteverbotsschilder gibt es. Für Anhänger des Mischverkehrskonzept ist das aber durchaus in Ordnung. „Shared Space heißt doch nicht, dass plötzlich alle Ampeln und Schilder verboten sind“, sagt etwa Martin Kaufmann, Bürgermeister der Gemeinde Rudersberg im Rems-Murr-Kreis. Auch in diesem Ort soll es bald einen Shared Space geben. Der Bürgersteig bleibt – wenn auch klein – erhalten. Und vielleicht wird es dabei nicht bleiben: „Der Umbau ist bei uns noch nicht fertig, da fordert das Landratsamt schon einen neuen Zebrastreifen.“