Das Märchen „Rotkäppchen“ galt in seiner französischen Urform „Le Petit Chaperon Rouge“ von 1697 als Warnung an Mädchen, sich von Fremden nicht verführen zu lassen. Foto: AP

In der Märchenwelt gibt es allerlei Medizinisches zu entdecken. In welcher Geschichte der Kaiserschnitt Menschenleben rettet, erklärt ein Heidelberger Forscher.

Stuttgart/Heidelberg - Es war eine kuriose Geburt: „Da nahm er eine Schere und fing an, dem schlafenden Wolf den Bauch aufzuschneiden. Wie er ein paar Schnitte getan hatte, da sah er das rote Käppchen leuchten, und noch ein paar Schnitte, da sprang das Mädchen heraus und rief: ‚Ach, wie war ich erschrocken, wie war’s so dunkel in dem Wolf seinem Leib!‘ Und dann kam die alte Großmutter auch noch lebendig heraus und konnte kaum atmen.“ So beschrieben die Brüder Grimm die Rettung von Rotkäppchen und seiner Großmutter – und zugleich das Vorgehen beim Kaiserschnitt.

Normalerweise gibt es eine Vielzahl an Märchen und Mythen in der Medizin, die sich im Volksglauben lange halten – etwa dass Schokoladeessen Pickel verursacht oder dass beim Schielen bei Gewitter die Augen stehen bleiben können. Doch Wolfgang Eckart, Professor für Geschichte der Medizin an der Universität Heidelberg, dreht den Spieß in seinen Vorträgen auch mal um: Dann beschäftigt er sich mit der Frage, welche Rolle die Medizin in Märchen spielt. „Mir ist aufgefallen, dass sich in den Geschichten Motive, Symbole und Handlungen wiederholen, die man auch aus der Medizin kennt“, sagt er etwa bei einer Veranstaltung des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert-Bosch-Stiftung in Stuttgart.

Der Kaiserschnitt findet sich auch beim Wolf und den sieben Geißlein

So findet sich der seit der Antike bekannte, aber damals gefürchtete Kaiserschnitt nicht nur bei Rotkäppchen wieder, sondern auch in dem Märchen vom Wolf und den sieben Geißlein. Dort greift die Geißenmutter ebenfalls zur Schere, um dem schlafenden Wolf den Bauch zu öffnen und ihre Kinder zu retten. „Der Kaiserschnitt galt damals als sogenannte Ultimo Ratio“, sagt Eckart. Der Eingriff wurde nur durchgeführt, um bei einer dem Tod geweihten Schwangeren wenigstens das Kind zu retten. „Die Mutter hat diesen Eingriff damals fast nie überlebt.“ Wurde also im Märchen dem Wolf der Bauch aufgeschnitten, so rettete man das Leben Unschuldiger, gab das Untier zugleich aber auch dem Tode preis.

Rotkäppchen als Warnung an junge Damen

Nicht nur die Chirurgie hat ihren Platz im Märchen: Sie sind auch für viele Psychologen ein anschaulicher Lesestoff. Gerade das Märchen „Rotkäppchen“ galt in seiner französischen Urform „Le Petit Chaperon Rouge“ von 1697 als Warnung an Mädchen, sich von Fremden nicht verführen zu lassen. Hier steigt Rotkäppchen sogar zum Wolf ins Bett. Weshalb der Verfasser, der französische Staatsbeamte Charles Perrault, am Ende ermahnt, sich von den Wölfen fernzuhalten, die „ohne Lärm, ohne Gemeinheit und ohne Wut, sehr zurückhaltend, freundlich und sanft den jungen Damen folgen“.

Der Salat aus Rapunzel ist für Schwangere besonders gesund

Die Triebe und Gelüste werden aber auch anderen Märchengestalten zum Verhängnis: Etwa der Mutter von Rapunzel. Hätte die königliche Schwangere nicht so einen Heißhunger auf Rapunzel-Salat entwickelt, wäre ihre Tochter später nicht im Turm eingesperrt worden. So aber musste der König das schmackhafte Wildkraut aus dem Garten einer Hexe stehlen und wird prompt von ihr ertappt. Als Gegenleistung holt sich die Alte wenige Monate später das Neugeborene – der Rest ist Märchengeschichte.

Man müsse die Königin verstehen, sagt Wolfgang Eckart: „Rapunzel, die Wildform von Feldsalat, ist sehr gesund.“ Seine Nährstoffe sind insbesondere für Schwangere unerlässlich: Er ist reich an Vitamin A, das für verschiedene Wachstumsprozesse wichtig ist und auch die Sehkraft unterstützt, ebenso an Folsäure, Eisen und Mineralstoffe.

In Italien heißt Rapunzel „Petersilchen“

Aber noch aus einem anderen Grund lohnt es, das Märchen „Rapunzel“ in medizinischer Hinsicht genau zu lesen: Als der durch seinen Sturz vom Turm blind gewordene Prinz endlich seine Rapunzel findet, beginnt sie zu weinen. „Zwei von ihren Tränen aber benetzten seine Augen, da wurden sie wieder klar, und er konnte damit sehen wie sonst“, heißt es im Märchen. Eine Anlehnung an die katholische Marienverehrung, so Eckart: „Der Wunderglaube, dass gewisse Mittel einen vor Krankheiten und anderem Übel befreien können, war damals sehr verbreitet.“ Insbesondere in Italien, woher „Rapunzels“ Original „Petrosinella“ – was übrigens „Petersilchen“ heißt – auch stammt.

Tote mit Heilwässerchen auferstehen zu lassen – ein beliebtes Märchenmotiv

Wundersame Wässerchen, ja selbst das Lebenselixier tauchen in Märchen auf. In „Der Gevatter“ wird der Tod Pate eines armen Kindes. Als Erwachsener hat es dank eines Wässerchens die Fähigkeit, Todkranke wiederzubeleben. Eckart sieht darin die Vorstellung, dass es ein Arcanum geben könnte. In der Magie der frühen Neuzeit stellt das Arcanum einen geheimnisvollen Wirkstoff dar, mit dem sämtliche Krankheiten geheilt werden könnten. „Man müsste ihn nur destillieren oder in Wasser auflösen und ihn als Medikament einsetzen“, sagt Eckart. Vielleicht ein Grund, warum die Skandinavier ihren Kümmelschnaps ausgerechnet „Aquavit“ – also „Wasser des Lebens“ getauft hatten.

Das tapfere Schneiderlein wird dank Käse zum Riesenbezwinger

Auch wird im Märchen selten ohne Hintergedanken gegessen oder gar getrunken: „Stärkender Nahrung wurde eine besondere, ja fast magische Kraft zugeschrieben“, sagt Eckart. Das tapfere Schneiderlein etwa überlistet den Riesen mithilfe eines Käses: Um seine Stärke unter Beweis zu stellen, quetscht das Männlein den Käse, bis das Wasser heraustropft. Für Eckart ist das folgerichtig; „Käse galt schon zu Zeiten der Gladiatorenkämpfe als Stärkungsmittel.“

Nicht die Tafelkreide macht die Stimme samtig, sondern die Holunrekreide.

Und noch ein märchenhaftes Rätsel konnte der Medizinhistoriker lösen: Nämlich die Frage, warum der Wolf ausgerechnet Kreide aß, um die sieben Geißlein zu täuschen. „Um herauszufinden, ob sich meine Stimme verändert, habe ich als Kind mal in Schneiderkreide gebissen.“ Heute weiß Eckart: Der Wolf aß keine Tafelkreide, sondern „Kreude“ oder „Krude“ – einen Extrakt aus Holunderbeeren, dessen Rezept im 16. Jahrhundert aufgetaucht ist. Er wurde Sängern verschrieben, um die Stimme geschmeidig werden zu lassen. Beim Wolf hat’s funktioniert: Die getäuschten Zicklein öffnen die Tür – und das Märchen nimmt seinen Lauf.