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Martin Schulz führt nicht nur die deutschen, sondern auch die europäischen Sozialdemokraten in die Europawahl, die am 25. Mai stattfindet. Sein Ziel: Als Wahlsieger will der jetzige Präsident des Europäischen Parlaments anschließend zum Chef der nächsten Kommission gewählt werden.

Martin Schulz führt nicht nur die deutschen, sondern auch die europäischen Sozialdemokraten in die Europawahl, die am 25. Mai stattfindet. Sein Ziel: Als Wahlsieger will der jetzige Präsident des Europäischen Parlaments anschließend zum Chef der nächsten Kommission gewählt werden.

Herr Schulz, der Präsident der Europäischen Kommission sitzt zwischen den Stühlen der 28 Mitgliedstaaten, wird für alles verantwortlich gemacht und muss einen großen Apparat leiten. Was werden Sie als Erstes tun, wenn Sie diese Aufgabe übertragen bekommen?
Ich würde einen Brief an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Kommission schreiben. Darin würde ich dazu auffordern: Denken Sie nicht länger darüber nach, ob es noch einen Winkel in Europa gibt, in den wir uns noch nicht eingemischt haben, sondern machen Sie mir Vorschläge, was wir besser, effektiver und bürgernäher lokal, regional oder national machen können.  
Was heißt das konkret?
Heute arbeiten die Kommissariate und Generaldirektionen immer wieder nebeneinander her. Ich will eine Vernetzung. Diese wird die Kommission befähigen, bestimmte Themen an die Mitgliedstaaten zurück zu delegieren. Dadurch gewinnt man Freiräume, sich auf wirklich große Bereiche zu konzentrieren, von denen es vielleicht fünf oder sechs gibt . . .
. . . beispielsweise?
Ein Beispiel ist die digitale Infrastruktur. Wir haben es praktisch mit einer Monopolstellung amerikanischer Internetkonzerne zu tun. Wenn man das ändern will, muss man Breitbandnetze fördern, die ländliche Entwicklung forcieren, die Verkehrspolitik ausbauen, Forschung und Entwicklung verstärken. Außerdem ist der Datenschutz ein zentrales Anliegen. Ein solches Thema wirkungsvoll zu bearbeiten wäre eine große Aufgabe, die nur in Europa gelöst werden kann.
Also keine Gesetzgebung mehr zu Olivenöl-Kännchen und Fettsucht?
Der Binnenmarkt wird nicht behindert, wenn man auf regionale Eigenheiten Rücksicht nimmt. Worin besteht eigentlich das Binnenmarkt-Hindernis, wenn spanische Restaurants Olivenöl in verschlossenen Fläschchen anbieten, deutsche aber nicht? Oder: Wieso wird der  Binnenmarkt für einen italienischen Weinexporteur gebremst, wenn Deutschland an seiner Sparkassen- und Volksbanken-Infrastruktur festhält? Unser Sparkassen-Gesetz wurde ja als wettbewerbswidrig eingestuft. Worin besteht diese Behinderung des Wettbewerbs? Das kann niemand verstehen. Dieses Beispiel zeigt, wo die Gesetzgebung der EU ausgeufert ist.
Ist es leicht, einen „Euro-Star“ wie Jean-Claude Juncker als Gegenkandidaten auf konservativer Seite zu haben?
Ich respektiere ihn sehr, wir arbeiten seit vielen Jahren zusammen. Ich weiß, dass er das Problem hat, mir in fast allen Punkten der Sozialpolitik recht zu geben. Das unterscheidet ihn von seiner Partei.
Sie haben die bevorstehende Europawahl als besonders wichtig bezeichnet. Warum?
Es hat in den zurückliegenden Jahren institutionelle Veränderungen gegeben. Der Einfluss der Kommission ist schwächer, der des Parlaments stärker geworden. In die entstehende Lücke hinein hat der Europäische Rat, also der Kreis  der Staats- und Regierungschefs, seinen Einfluss so ausgebaut, dass man fast schon von einer „Selbstermächtigung“ sprechen kann. Denn teilweise findet die Gesetzgebung inzwischen im Kreis der „Chefs“ statt. Das dürfen wir nicht hinnehmen. Ein Kommissionspräsident, der aus einer Volkswahl hervorgeht, hat ein ganz anderes Gewicht, als wenn er – wie bisher – von den Staats- und Regierungschefs ernannt wird. Die Bürgerinnen und Bürger haben das Sagen.
Welchen Einfluss werden die Vorgänge in der Ukraine auf diese Wahl haben?
Die Ukraine-Krise wird dazu führen, dass die Wahlbeteiligung steigt. Denn sie macht den Wählern klar: In Europa regiert die Stärke des Rechts. An den Rändern der Gemeinschaft setzt sich gerade das Recht des Stärkeren durch. Die Menschen haben zum ersten Mal wieder erlebt, dass die Angst vor einem Krieg nicht vergessen ist. Wir haben zwar in Europa den Krieg gebannt, aber er ist deswegen ja nicht aus der Welt verschwunden.
Es gibt Hinweise auf ein Erstarken rechter und EU-skeptischer Kräfte. Rechnen Sie da mit einer Blockade des Parlaments?
Nein, sie werden nicht stark genug werden, um das Parlament wirklich blockieren zu können. Aber die Gefahr von rechts ist real. Dadurch, dass das Bundesverfassungsgericht die Drei-Prozent-Klausel gekippt hat, kann es rechtsradikalen Parteien in Deutschland gelingen, ins EP einzuziehen. Das können wir nur verhindern, wenn die Wahlbeteiligung möglichst hoch ist. In mehreren Mitgliedstaaten gibt es rechte Parteien, die entweder die stärkste oder die zweitstärkste politische Kraft werden dürften. Ich mache mir aber viel mehr Gedanken darüber, welche Auswirkungen die Argumente rechter und skeptischer Parteien auf andere haben. Passen sich da möglicherweise etablierte Parteien an und übernehmen die EU-kritische Sicht? Oder bekämpfen wir sie offensiv?  Ich denke, dass der zweite Weg der richtige ist.
Können Sie den Frust über Europa, der hinter diesem Zulauf für Kritiker steht, nachvollziehen?
Das kann ich sogar sehr gut. Diese EU redet ständig über Milliarden. Aber wir reden nicht über die 1000 Euro, die einem 50-jährigen Arbeitslosen fehlen, um seine Familie zu ernähren. Diese Menschen sind enttäuscht, sie sind frustriert, deshalb wenden sie sich ab, nicht weil sie Antidemokraten sind. Deshalb müssen wir diesen Betroffenen zeigen, dass die EU sie ernst nimmt und etwas für sie tut.
Sie sprechen die Südländer an, vor allem Griechenland. Ist das Land noch zu retten?
Ja klar. Griechenland hat eine Rekord-Tourismussaison hinter und wohl auch wieder vor sich. Mir sagen Gesprächspartner aus Griechenland, dass man Investitionen braucht, um diesen Erfolg dauerhaft sicherzustellen. Hotels müssen ausgebaut, Fähren ersetzt, Häfen verbessert werden. Da gibt es viele Möglichkeiten, um eine positive Entwicklung zu verstetigen. Aber die griechischen Banken geben Unternehmen keine Kredite. Dieses Problem müssen wir lösen. Da geht es nicht um ein drittes Hilfspaket, sondern um ganz praktische Unterstützung. Dann hat das Land ganz viele Chancen.
Die Armutszuwanderung hat viele verbittert. Welchen Spielraum hat die EU, um die Situation der Betroffenen, aber auch der Städte und Gemeinden zu verbessern?
Die Freizügigkeit für Menschen ist ein Grundwert, der nicht eingeschränkt wird. Aber wir haben damals nicht die Freizügigkeit der Arbeitslosigkeit beschlossen. Wir sollten drei Dinge tun: Wir sollten aufhören, Armutsflüchtlinge als Verbrecher hinzustellen. Die Betroffenen versuchen zu überleben. Wir müssen zweitens den Städten und Gemeinden, die nicht mehr können, helfen. Drittens brauchen wir ein europäisches Mindestlohnsystem, der natürlich je nach Mitgliedsland auf unterschiedlicher Höhe liegen kann. Außerdem muss die Ausbeutung von Scheinselbstständigen dringend bekämpft werden.
Sollen diese Zuwanderer Sozialleistungen bekommen?
Die Mitgliedstaaten sind selbstverständlich verpflichtet, humanitäre Hilfe zu leisten. Aber sie sind selbstverständlich nicht verpflichtet, Sozialleistungen für jeden zugänglich zu machen, der meint, er könne sein Glück irgendwo anders suchen. Wer die Freizügigkeit nutzt, muss wissen, dass damit keine Freizügigkeit der Sozialleistungen verbunden ist.