Robert Menasse Foto: Dedert

Der Wiener Schriftsteller Robert Menasse über die Zukunft der EU, sein Buch "Die Hauptstadt" und Österreich als Heimat.

Oberndorf - Die Europäische Union steckt in einer Krise, die Nationalstaaten wollen ihr eigenes Süppchen kochen. Robert Menasse, Autor des ersten EU-Romans, "Die Hauptstadt", der mit dem Deutschen Buchpreis 2017 ausgezeichnet wurde, spricht über den Zustand der EU und seine eigene Heimat, die er nicht an Landesgrenzen festmachen will.

Herr Menasse, Sie haben mit "Die Hauptstadt" einen Bestseller geschrieben und wurden dafür mit dem deutschen Buchpreis belohnt. Ahnten Sie, dass sie einen Nerv der Zeit getroffen haben? Oder anders gefragt: Wie schreibt man Bestseller?

Wenn ich wüsste, wie man Bestseller schreibt, hätte ich ab meinem ersten Roman nur noch Bestseller geschrieben. Zum Nerv der Zeit: Es handelt sich hier um einen Nerv der Epoche, das ist mehr als etwas Zeitgeistiges. Die Auseinandersetzung mit der EU und der Notwendigkeit zu wissen, wie sie funktioniert und warum so vieles nicht funktioniert und auch die Diskussion darüber, wie es weitergehen soll, ist, glaube ich, die entscheidende Frage unserer Lebenszeit.

Sie sind ein politischer Autor und ausgewiesener EU-Kritiker, das wird auch im Roman deutlich. Was würden Sie denn in baldiger Zukunft an Änderungen innerhalb der EU erwarten? Ein Europa der Regionen wie in "Europäischer Landbote" angerissen?

Ich würde mich nicht als EU-Kritiker kennzeichnen, ich bin ein Verteidiger der europäischen Idee, die weitgehend in Vergessenheit geraten ist, weshalb ich mich bemühe, sie nicht nur zu rekonstruieren, sondern sie auch wieder bekannt zu machen. Also, ich bin ein Kritiker des Status quo der EU, der gegenwärtigen Verfasstheit. Die Auseinandersetzung mit der EU ist leider geprägt durch einen unproduktiven Widerspruch: Auf der einen Seite gibt es die EU-Befürworter, die in der Mehrzahl politische Eliten sind, die in Sonntagsreden behaupten, sie seien glühende Europäer und ein gemeinsames Europa sei notwendig, die aber eigentlich die Probleme, die wir gegenwärtig haben, schönreden. Schönreden ist sinnlos, damit verliert man das Vertrauen der Bürger. Auf der anderen Seite gibt es die EU-Skeptiker und -Kritiker, die finden alles schlecht. Sie haben gute Gründe, denn es ist tatsächlich einiges im Argen. Aber sie vergessen, dass die Idee gut ist. Und es ist genauso dumm, alles zerstören wie alles schönreden zu wollen. Meine Position ist genau dazwischen. Ich verteidige die europäische Idee und kritisiere den gegenwärtigen Zustand, und aus dem werden wir nur herauskommen, wenn wir die aktuelle Verfassung besser verstehen, warum so vieles nicht funktioniert und wie diese Probleme andererseits lösbar wären. Die europäische Republik wäre sicher die Antwort, aber das ist ein Prozess, der erst beginnen muss.

Wie stehen Sie einer weiteren europäischen Integration hinsichtlich des West-Balkans gegenüber, die von einigen als Problemzone ausgemacht wird, aber jüngst von Juncker in Aussicht gestellt wurde?

Ich finde, dass in Europa nicht nur der Balkan problematisch ist. Wenn wir alles aus Europa ausschließen wollen, was problematisch ist, dann bleibt ein kleines Häuflein aufgeklärter Republikaner übrig. Aber bei einer sogenannten Vertiefung der EU geht es meiner Meinung nach nicht in erster Linie um immer mehr Mitgliedsstaaten, die dann als Nationalstaaten Teil der Union werden, als vielmehr um die Überwindung des Nationalismus und das wäre eine Europäisierung Europas. Der Fehler, der bei der großen EU-Osterweiterung gemacht worden war, war, dass man – unter EU-Kommissar Günter Verheugen, der große Erweiterungskommissar – diesen Staaten nicht gesagt hat, was es bedeutet, EU-Mitglied zu sein. Man hat sie im Glauben gelassen, wenn sie Mitglied werden, können sie ihren Nationalismus weiter pflegen auf der Basis von Subventionen und Geld aus Brüssel.

"›Die Hauptstadt‹ ist kein Roman, es ist ein Manifest. Ein absurdes. Dass es in Deutschland zum Bestseller wurde, macht mich fassungslos. Eine politische Kritik." Dies schrieb der Thinktank-Direktor Roland Freudenstein im Tagesspiegel am 12. Januar 2018 über Ihr Buch. Schreiben Sie Europa tatsächlich kaputt?

Dieses Zitat ist Unsinn, mein Roman ist kein Manifest. Was mich fassungslos macht, ist, dass Leute, die diese Worte wählen, wie Freudenstein, Leiter eines Thinktanks sind.

Zurück zum konkreten Inhalt des Buchs: Die Figur des an Demenz erkrankten KZ-Häftlings, David de Vriend, war sehr sensibel beschrieben. Hat das biografische Hintergründe?

In einer Zeit nach Auschwitz hat jeder Europäer, der über Auschwitz nachdenkt, gute biografische Gründe dafür; wir dürfen auch nicht vergessen, dass der Schock, nachdem diese Tragödie klar geworden ist, uns die Möglichkeit eröffnet hat, ein gemeinsames nachnationales Europa zu denken. Und, weil Auschwitz die radikalste Konsequenz des Nationalismus‘ war. Wenn man sagt, dass Auschwitz nie wieder passieren soll, muss man den Nationalismus infrage stellen. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass die Generation, die nach 1945 begonnen hat, das gemeinsame Europa als Projekt auf die Schienen zu stellen, in ihrer Lebenszeit drei Kriege und einen Bürgerkrieg erlebt hat. Die haben gewusst, Friedensverträge nützen nichts, denn es gab Friedensverträge und Bündnisse, aber die Nationen sind doch übereinander hergefallen. Und sie haben gewusst, internationale Organisationen nützen nichts, denn es gab auch sie. Kurzum: Alles, was man zwischen Nationen vereinbart, nützt nichts, um den Frieden zu erhalten. So ist die Idee entstanden, es nach dem Schock von Auschwitz mit einem nachnationalen Europa in kleinen Schritten zu versuchen. Das alles hat in unserer Lebenszeit stattgefunden und findet in unserer Lebenszeit statt. Alles, was wir jetzt diskutieren, hat gute biografische Gründe.

Wie sah Ihre Recherche zum Thema EU-Lobbyismus aus?

Ich habe mich sehr leicht getan beim Recherchieren in Brüssel, allein deshalb, weil ich kein Journalist bin. Dadurch hat man leichter Vertrauen zu mir gefasst. Die Menschen wissen schon, dass ein Journalist, der viele Fragen stellt, schon darauf aus ist, etwas aufzudecken, was er dann als Skandal verkaufen kann. Ich habe mich einfach bemüht, das System zu verstehen, und ich habe mit Verblüffen etwas festgestellt, das ich nie in Zeitungen gelesen habe, nämlich, dass die EU-Kommission eine sehr offene und transparente Institution ist. Ich habe versucht, mit so vielen Beamten wie möglich zu reden und mir erzählen zu lassen, was sie tun und warum sie das tun.

Half da der Name Menasse?

Nein, es gibt ja auch Brüsselreisen zu den europäischen Institutionen für Bürger. Man muss aber nicht vier Jahre in Brüssel leben, um das System zu verstehen, man kann ja auch meine Bücher lesen. Es gibt auch eine Holschuld. Ein Blick in Ihre Heimat: Österreich ist eine große Kulturnation, man denke nur an die Habsburger Monarchie.

Wie passt die aktuelle Koalition aus ÖVP und FPÖ unter Regierungschef Sebastian Kurz dazu?

Österreich ist nicht meine Heimat. Europa eher, oder? Ich bin zuerst einmal Wiener. Allein als Städter habe ich mehr Gemeinsamkeiten mit einem Menschen aus Bratislava, der von Wien vierzig Minuten entfernt ist, als mit einem Tiroler Bergbauern. Man kann Freunde in Tirol haben, man kann aber auch Freunde auf dem Peloponnes haben. Ich verstehe die ganze Frage nach der nationalen Identität nicht. In Deutschland ist das genauso. Ein Bayer ist kein Preuße, das weiß in Deutschland jeder. Warum dann doch so viele festhalten an der Fiktion der nationalen Identität, das muss man mit viel Geduld diskutieren. In den kleinen europäischen Nationalstaaten, die es noch gibt, zeigt sich meiner Ansicht nach der Unernst, den nationale Politik eigentlich hat.

Inwiefern?

In Italien einen Clown zu wählen, in Ungarn den Orban oder in Polen den Kaczynski, diese Staaten, die scheinbar nationale Identitäten haben, dort zeigt sich eindeutig, dass den Menschen mittlerweile egal ist, wer sie regiert. Die Entscheidungen fallen woanders. Die Gestaltungsmöglichkeiten innerhalb einer Nation sind winzig geworden. Das drückt sich auch in den Wahlergebnissen aus, die unernst geworden sind. Wer fünfzehn Minuten Sebastian Kurz im Fernsehen gesehen hat und dabei nicht an Donald Duck samt Sprechblasen denkt, dem ist nicht zu helfen. Es ist ein Zeichen von Unernst. Ich habe mit Freunden in Italien gesprochen nach der italienischen Wahl, und die haben mir gesagt, wir haben gelebt, gearbeitet und unser Leben gemacht unter Silvio Berlusconi. Irgendwann haben wir vergessen, dass der Berlusconi da oben auf dem Thron sitzt, es ist unerheblich geworden. Die entscheidende Frage ist, wie Gemeinschaftspolitik funktionieren kann im Hinblick auf die wirklichen Herausforderungen, vor denen wir stehen. Denn alle großen Herausforderungen sind transnational, was will man da in der nationalen Politik managen oder regeln. Von den Finanzströmen über die Wertschöpfungsketten bis hin zu Sicherheitsfragen, Migration und Cyberkriminalität: Lauter transnationale Phänomene, die nicht auf nationaler Ebene zu regeln sind. Die Menschen spüren das, haben allerdings noch keine wirkliche Antwort darauf. Inzwischen gewinnen immer mehr seltsame Bewegungen an Bedeutung, die ihnen etwas versprechen, von denen auch niemand ernsthaft glaubt, dass sie das halten können.