Über Funk bleiben die Einsatzkräfte mit der Notfallzentrale in Kontakt. Foto: Breitmaier

Jan Straub aus Horb ist Rettungssanitäter auf der Wache in Herrenberg. Der Schwarzwälder Bote hat ihn begleitet.

Horb/Herrenberg - Der alte Mann sitzt in seinem Rollstuhl. Auf den ersten Blick scheint alles normal. Doch seine glasig-leeren Augen geben Anlass zur Sorge. Er kann nicht mehr sprechen. "Beim Frühstück hat er noch ganz normal geredet, dann hat er plötzlich abgeschaltet" - seine Frau ist hektisch, sie hyperventiliert.

Vor nicht einmal 20 Minuten ist ihr Ehemann in sich zusammengesackt. "Soll ich den Krankenwagen holen?" - auf die Frage seiner Frau konnte er noch mit einem Nicken antworten. Dann war er weg.

Ortswechsel: Hart an der Schmerzgrenze  bohrt sich ein Ton ins Ohr - flutet jeden Winkel der kleinen Rettungswache am Krankenhaus in Herrenberg. Ursprung ist ein dunkles Kästchen an Jan Straubs Gürtel - zigarettenschachtelgroß. Der Horber Rettungssanitäter springt auf. Er lässt alles stehen und liegen. Keine Minute später sitzt er an der Seite von seinem Kollegen Matthias Streckel im RTW 383/1. Die beiden haben 15 Minuten Zeit, um zum Patienten zu gelangen - 160 PS helfen. Zeitgleich verlässt das Notarzteinsatzfahrzeug die Wache. An Bord sind Notarzt Wolfgang Hermann und Rettungsassistent Achim Här.

Die beiden Fahrzeuge rasen durch die Straßen Herrenbergs - Dröhnen der Sirene im Kopf. Ein dreistelliger Code auf einem Display im Cockpit - "Verdacht auch Schlaganfall", übersetzt Straub. Darunter eine Adresse - das ist alles, was die Rettungskräfte zu diesem Zeitpunkt über den Einsatz wissen.Das Neue Jahr ist noch jung. Die Straßen sind leer. In nicht einmal zehn Minuten werden die beiden Fahrzeuge von der aufgelösten Frau des Notfallpatienten begrüßt.

Straubs Hände greifen nach dem Kombigerät aus Defibrillator, EKG und Blutdruckmessgerät. Matthias Streckel reißt den Notfallrucksack aus dem Schrank - Medikamente, Infusionsbeutel, Spritzen.

Im Wohnzimmer sitzt der ältere Mann in seinem Rollstuhl. Sein Brustkorb  hebt und senkt sich - fast unmerklich. Straub und Streckel bereiten schon alles für eine Reanimation vor. Die Vermutung: Das "Schlägle". Der Ausdruck  klingt nicht bedrohlich. Viele ältere Menschen bezeichnen damit aber  einen häufigen und sehr ernsten Notfall - den Schlaganfall.Die Stimme von Wolfgang Hermann durchschneidet die Hektik des Raumes. Mit professioneller Ruhe  schaut der Notarzt sich den alten Mann an, stellt Fragen an ihn und seine Frau: "Wie viel hat er getrunken?" - zu wenig. Die Bewegungen der Frau werden ruhiger. Immer wieder fragt er auch den Patienten, ob er ihn verstehen kann. Und dann: Der Rentner gibt ein Röcheln von sich, er schnauft einmal laut auf - Leben kehrt in seine Augen zurück, er blinzelt.

"Man lernt sehr viel Elend in verschiedenen Situationen kennen"

Der Notarzt legt ihm eine Infusion, um den Mann zu rehydrieren. Langsam geht es ihm wieder besser. Das Rettungsteam lädt ihn auf die Trage - ab in den Wagen. Zu dem Zeitpunkt kann er wieder Witze auf seine eigenen Kosten machen. Er spricht davon, dass er in der vergangenen Nacht vermutlich bereits ein "Schlägle" hatte. Deutlich langsamer geht es zurück zum Herrenberger Krankenhaus.

Leben auf der Wache: Für den Horber Rettungssanitäter Jan Straub heißt das drei bis viermal die Woche eine zwölf Stunden Schicht - verantwortlich sein für etwa 95 000 Bürger im Kreis Böblingen.  Straub fährt immer mit seinem Partner Matthias Streckel zusammen - "Matze ist Familie".Der Pieper schweigt für einige Minuten. Das Inventar des Rettungswagens ist geprüft. Alles hygienisch sauber. Zeit für Gespräche.Beim Rettungsdienst zu arbeiten heißt Dinge zu sehen, die andere nicht sehen. Straub: "Man lernt sehr viel Elend in verschiedenen Situationen kennen". Ausnahmesituationen, die einen auch als erfahrenen Rettungssanitäter an Grenzen bringen.

Bahnstrecke Ehningen, es war nachts, durchdringende Kälte. Straub und Streckel erzählen die Geschichte eines Suizids, die sie nicht so schnell vergessen. Das Besondere an diesem Einsatz war: Nachdem man die Leichenteile gefunden hatte, wurden an der Unfallstelle auch Stoffpuppen entdeckt. Es war unklar, ob Kinder beteiligt waren. Straub erinnert sich: "Es war wie im Horrorfilm".

Der Verdacht bestätigte sich nicht, aber "jedes Mal, wenn Kinder involviert sind, das geht an die Substanz", erklärt der 36-jährige Horber. Achim Här  kann das bestätigen. Er liegt neben Straub und Streckel auf einem der beiden etwas durchgesessenen Sofas der Rettungswache. Viel Platz gibt es hier nicht. Seit 1978 ist er beim Rettungsdienst, seit dem Tag seines 18. Geburtstags. Er bemerkt, dass der Beruf auch an die eigene Gesundheit gehen kann.

Angst haben die Rettungskräfte aber eher selten. Doch Gewalt ist den Männern nicht fremd. Zu oft komme es vor, dass es zu Handgreiflichkeiten zwischen den Rettungskräften und den Personen vor Ort kommt. Die Flasche Bier, die jedes Jahr in der Silvesternacht gegen den Rettungswagen fliegt - sie ist keine Überraschung mehr.

Also warum machen die drei Rettungskräfte den Job? Warum würden sie nicht tauschen? Straub zögert kurz bei der Antwort: "Man muss schon auch ein bisschen Spinner sein, dass man in dem Job bleibt." Geht es darum Held zu sein? "Nein", meint Streckel: "Das Schönste an dem Job ist eigentlich das kleine, ernst gemeinte Danke, wenn Menschen einem das Gefühl geben, dass man eben nicht nur der Sanka-Fahrer ist.

Ob das ein schwerer Einsatz war oder nicht, ist eigentlich egal" - die Karte zu Weihnachten, zwei Gläser Honig, als kleines Dankeschön - die beiden freuen sich, dass sie für einige Menschen "nicht nur Dienstleister" sind. Straub wirft ein: "Aber klar ist es auch ein gutes Gefühl, wenn ein Mann mit schwerem Herzinfarkt am selben Tag noch Geburtstag feiern, kann - weil wir rechtzeitig da waren."

Heute waren es sieben Einsätze. Verdacht auf Schlaganfall, akute Atemnot, Verdacht auf Herzinfarkt - alle Patienten über 50. Für die Rettungskräfte in Herrenberg ein eher gewöhnlicher Tag. Die zwölf Stunden neigen sich dem Ende, aber die Schicht ist erst vorbei, wenn die Ablösung in den Startlöchern steht.

18.54 Uhr - der Alarm an Jan Straubs Gürtel meldet sich, sechs Minuten vor Feierabend. Keine Zeit zu zögern - zwei Minuten später blinkt das Blaulicht des RTW 383/1 durch Herrenberg.