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Richter spricht von "möglichen Urteil bei alternativer Tatsachengrundlage". Eine Indizien-Analyse

Rottweil/Horb - Das muss das für ein Gefühl sein? Das Urteil im Riecher-Mordprozess wird am 8. Januar verkündet. Doch gleich nach dem Ende der Plädoyers gestern hat sich die fünfköpfige Schwurgerichtskammer zur Besprechung getroffen. Angesetzte Dauer: mehrere Stunden. Vorbesprechung für das Urteil – und ein Damoklesschwert für die Angeklagten Mohammed O. und Iyad B. in ihrer Zelle.

Denn: Es kann sein, dass beide als Mörder verurteilt werden. Obwohl es unklar ist, wer es war.

Richter Karlheinz Münzer startet die gestrige Verhandlung mit einem neuen rechtlichen Hinweis. Münzer: "Eine Verurteilung mit alternativen Tatsachengrundlage kommt in Betracht."

Verurteilung beider Angeklagter möglich

Was steckt dahinter? Ein Verfahrensbeteiligter erklärt: "Darüber haben wir gerätselt. Damit könnten wohl beide als Täter in Betracht kommen, wenn man nicht weiß, wer es war. Aber beiden Angeklagten könnte die Tötung zuzurechnen sein." Diese Rechtsvariante beruht ursprünglich auf dem Grundsatz "in dubio pro reo" – allerdings hier nicht mit einem Freispruch als Ergebnis, sondern "im Zweifel" zur Verurteilung. Ein Jurist nennt hierfür ein Beispiel: "Wenn bei einem Diebstahl das Diebesgut bei einem anderen gefunden wird und man weiß nicht, ob er Mit-Dieb oder Hehler ist, werden beide auf alternativer Tatsachengrundlage verurteilt."

Das könnte bedeuten: Für die Urteilsbegründung für Mohammed O. als Mörder wird eine Tatsachengrundlage genommen, für die Urteilsbegründung von Iyad B. als Mörder die alternative Tatsachengrundlage.

Das sei allerdings nur ein rechtlicher Hinweis des Vorsitzenden Richters und nicht der gesamten Kammer. Daraus kann man aber schließen, dass das bisher nicht die Meinung aller ist, das dieser Punkt aber diskutiert werden wird.

Dieses ungewöhnliche und eher selten Rechtskonstrukt würde bedeuten, dass die Strafe für das Delikt milder ausfalle als wenn nur ein Angeklagter deswegen verurteilt wird, so erklärt Iyads Verteidiger Kristian Frank. Weil bei zwei möglichen Tätern in der Bestrafung immer der Zweifel enthalten sein müsste, dass es doch der andere war.

Im Klartext: Die von Oberstaatsanwalt Christoph Kalkschmid geforderten lebenslänglich bei besonderer Schwere der Schuld für Mohammed O. wäre so nicht mehr drin. Bei guter Führung könnten beide früher entlassen werden.

Fakt oder Fiktion

Damit eröffnet die Schwurgerichtskammer die Beweisaufnahme neu. Heißt: Alle Verteidiger, Nebenkläger oder Oberstaatsanwalt Christoph Kalkschmid können neue Anträge stellen. Nach 15 Minuten Pause verneinen das alle Prozessbeteiligten.

Doch vor welcher Strafe müssen Mohammed O. und Iyad B. jetzt in ihrer Zelle zittern? Werden beide wegen der Tötung verurteilt oder nur einer? Der Schwarzwälder Bote sagt, welche Fakten aus der Gerichtsverhandlung unstrittig sind. Und welche strittig. Und sich was daraus für das Urteil ergeben könnte.

Fakt ist: Es gibt keine objektiven, eindeutigen Spuren von Mohammed O. am Tatort, die darauf hinweisen, dass er Riecher erwürgt hat. Sein iPhone 7 war von 19.03 bis 19.26 oder 19.28 Uhr im sogenannten Wirkbereich des Routers des Opfers eingeloggt. O.s Verteidiger Alexander Kubick: "Mein Mandant kann sich – aufgrund der Toleranz der GPS-Daten – zu diesem Zeitpunkt bis zu 11,8 Meter südlich der Schweikheimer Straße 7 befunden haben. Das ist alles möglich."

Konkret: Diese Daten beweisen nicht, das Mohammed O. in der Wohnung des Opfers war. Sie schließen es aber auch nicht aus.

Iyad hatte sowohl in seiner ersten Vernehmung bei der Polizei als auch in seiner Erklärung gesagt, dass O. ihn gegen 18.45 Uhr an Riechers Haus abgesetzt hat. Hier habe er das Opfer überfallen. Riecher ging zu Boden, Iyad ging mit ihm ins Schlafzimmer und holte ihm ein Glas Wasser, so seine Aussage. Das Glas wurde auch gefunden – mit Blutspuren von Iyad, weil ihm das Opfer in den Finger gebissen hatte. Und Spuren von Riecher. Danach sei er mit dem Opfer ins Büro, habe 3000 Euro aus der Geldkassette bekommen. Dann seien beide ins Haus zurückgekommen.

Laut Iyad habe O. ihn gegen 19.45 Uhr vom Haus des Opfers zum Bahnhof gefahren. An den Knöpfen vom Hemd von Michael Riecher wurden Mischspuren vom Opfer und von der DNA von Iyad gefunden.

Was sagen diese Fakten aus?

Iyad war laut seinem Geständnis – was auch Indizien wie Schuhspuren unterstützen – eindeutig am Tatort. Er muss das Hemd des Opfers berührt haben. Das sagt aber nicht, dass er das Opfer erwürgt hat. Schließt es aber auch nicht aus.

Klar ist: Das Opfer wurde erwürgt. Doch wer war es? Laut Iyad sei Riecher vor ihm in die Wohnung zurückgegangen. Dann habe er gesehen, wie O. ihn von hinten angefallen hat. Er soll ihm laut Iyad die Hand vor den Mund gehalten und ihn ungefähr zwei Minuten am Boden festgehalten haben.

Laut dem pathologischen Gutachter Wehner muss der Tod des Opfers durch Erwürgen zwischen vier und acht Minuten gedauert haben. Das will Iyad nicht gesehen haben. Er hatte gesagt: "Ich war geschockt und perplex." Er habe sich nicht gerührt.

Das glauben weder Staatsanwalt, noch der psychiatrische Sachverständige Charalabos Salabasidis. Der hatte gesagt: "Iyad hat einen Charakter, der beharrlich seine Ziele verfolgen kann. Er realisiert vehement gewisse Vorhaben."

O.s Verteidiger Alexander Kubick unterstellt genau das in seinem Plädoyer: "Können wir ausschließen, dass Iyad nach der Frage des Opfers, ob er O. kenne, Angst vor dem Auffliegen seiner Tat hatte. Hatte er selber einen Gewaltexzess, um die Tat zu verdecken?"

Unstrittig ist: Beide Angeklagten hatten nach der Tat auf einmal Geld. Iyad hatte sich von der Beute u.a. Marihuana gekauft, eine Brille angezahlt und ein neues Smartphone für seine Ehefrau. Mohammed O. zahlte 370 Euro auf das Konto seiner Frau ein. War am Samstag nach der Tat im Milaneo in Stuttgart shoppen.

Wann wurde das Opfer erwürgt?

Die Verteidiger heben immer darauf ab, dass die WLAN-Daten aus dem Router beweisen, das O. zwischen 19.03 und maximal 19.28 Uhr am Tatort – was nicht nachgewiesen werden kann – oder in der Nähe war.

Der gerichtsmedizinische Sachverständige Stefan Wehner hatte aufgrund der Temperaturmethode ermittelt, dass der Todeszeitpunkt des Opfers frühestens um 19.30 Uhr war. Laut O.s Verteidiger verbleiben so maximal vier Minuten Zeit. Das reiche nicht, um das Opfer zu töten.

Oberstaatsanwalt Christoph Kalkschmid hatte schon in seinem Plädoyer darauf hingewiesen, dass diese Methode laut dem Sachverständigen Wehner eine "grobe Eingrenzung mit Unsicherheitsfaktor ist. Er würde auch einen Tod einige Minuten vor diesem Zeitpunkt für plausibel halten. 18 Uhr wäre aber definitiv zu früh."

Was bedeuten diese Fakten für das Urteil?

Staatsanwalt Kalkschmid zum Schwarzwälder Boten: "Die Kernfrage dürfte sein: Wie glaubhaft ist die Aussage von Iyad?"

Beide auf Bewährung – ist das realistisch? Dass sowohl Mohammed O. als auch Iyad B. auf Bewährung davonkommen, dürfte eher unwahrscheinlich sein. Michael Riecher wurde definitiv erwürgt. Das blutige Obehemd des Opfers wurde im Ökonomiegebäude des Mietshauses von Mohammed O. gefunden. Laut Oberstaatsanwalt Kalkschmid ein "starkes Beweismittel. Es war gut versteckt." O.s Verteidiger sagen, dass Iyad das Hemd dort versteckt hatte, um seine Spuren zu verwischen.

Allerdings: O. und Iyad kannten sich zum Zeitpunkt der Tat gerade mal etwas mehr als einen Tag. Nach der Version von O.s Verteidigern ist es möglich, dass O. und Iyad gegen 19.28 Uhr das Haus von Riecher verlassen haben und zur Ritterschaftsstraße gegangen oder gefahren sind. Iyad will nach seiner Aussage Horb mit dem Zug um 20.02 Uhr verlassen haben. Das Smartphone von Iyad loggte sich um 20.03 Uhr aus den Funkzellen im Horber Raum aus.

Laut den wichtigen Orten in O.s Iphone er von 19.33 Uhr bis 19.43 Uhr in Bewegung zur Ritterschaftsstraße 15, in der er gewohnt hat. Dort soll er laut den Aufzeichnungen um 19.55 Uhr Richtung Bahnhof aufgebrochen sein.

Stimmt das und Iyad war dabei, hätte der 12 Minuten gehabt, das blutige Hemd im Ökonomiegebäude zu verstecken.

In diesem Falle erscheint es wahrscheinlich, dass auch Iyad mit einer ordentlichen Freiheitsstrafe rechnen muss. Weil er als Komplize den von Mohammed O. schon lange geschmiedeten Plan, Riecher Geld und Gold zu entwenden, durch den Überfall erst möglich gemacht hat. Und weil es fraglich ist, warum er beim plötzlichen Überfall von O. auf das Opfer, welcher mindestens vier Minuten lang bis zum Tod gedauert hat, nicht eingegriffen hat.

Der Friseur, der "nur" wegen des Nichtanzeigens angeklagt war und der Hauptzeuge für die Vermittlung von Iyad an Mohammed O. war, hat eine Geldstrafe von 180 Tagessätzen à 15 Euro bekommen.

Doppel-Verurteilung – nicht unwahrscheinlich Auch eine Doppel-Verurteilung von Mohammed O. und Iyad wegen der Tötung scheint nicht ausgeschlossen zu sein.

O. brauchte Geld, schmiedete die Überfallpläne. Wurde von vielen Zeugen als "lügenhaft" bezeichnet. Wie Nebenkläger Rüdiger Kaufmann in seinem Plädoyer betont hatte, war O. laut den Router-Daten um 18.49 Uhr bei Riecher eingeloggt, danach um kurz vor 19 Uhr am Router in seiner Wohnung in der Ritterschaftsstraße. Da O. wegen seiner Überschuldung die Handy-Rechnung nicht gezahlt hatte, konnte er nur über WLAN telefonieren.

Um 18.58 Uhr hatte es einen Anruf von Iyad während des Überfalls an O. gegeben. 43 Sekunden lang. Unstrittig ist, dass die Verbindung auch aufgebaut wurde. Der Sachverständige konnte aber nicht nachweisen, ob telefoniert wurde.

Direkt nach dieser Verbindung, so Kaulmann, fuhr Mohammed O. los zum Haus des Opfers. Das beweisen die WLAN-Daten vom Riecher. Wenn man ein Telefongespräch unterstellt, ist es nicht ausgeschlossen, dass Iyad seinem Komplizen von Problemen beim Überfall berichtete. Stand O. wirklich zwischen 23 Minuten vor dem Haus des Opfers, während Iyad drinnen war? Wenn das Gericht das für unwahrscheinlich hält, waren beide im Haus.

Tötungs-Urteil allein gegen Iyad?

Wird Iyad allein wegen der Tötung verurteilt? Fakt ist: Vor der Tat war Iyad obdachlos, hatte 320 Euro im Monat. War gerade mit seiner Ehefrau nach der Trennung wieder in der Versöhnungsphase. 3000 Euro aus der Beute – die er sich später mit O. geteilt haben will – könnten ihn in dieser Lage zufriedengestellt haben, obwohl ihm sein Komplize mehr versprochen hatte. Die banale Frage: Ist diese Beute subjektiv für Iyad als Täter groß genug, um jemanden umzubringen? Ist ein Gewaltexzess unter Marihuana – er will während der Tat bekifft gewesen sein – wahrscheinlich?

Indizien, die für O. als Täter sprechen O. dagegen war dauerpleite, obwohl er 1200 Euro netto verdient hatte. Die Autokosten wurden von seiner Firma getragen, er wohnte mietfrei bei Riecher. Die Bank hatte ihm vor der Tat schon zweimal die "rote Karte" gezeigt, weil sein Konto über Gebühr überzogen war.

Fakt ist: Am Tattag gibt es einen gelben Zettel im Kalender des Opfers: "O. Gold". Laut Kaufbeleg, der im Haus des syrischen Flüchtlings gefunden wurde, sollte er Krügerrand im Wert von fast 10 000 Euro bei der Kreissparkasse kaufen. Am Tattag abholen. Das Gold wurde nie geholt.

Selbst Oberstaatsanwalt Christoph Kalkschmid kann sich vorstellen, das O. zwar das Geld vom Opfer kassierte, es aber dann im Komposthaufen vergrub. Eine Zeugin hatte die Polizei am 4. Januar diesen Jahres auf verdächtige Männer hingewiesen. Die Beamten fanden den aufgewühlten Komposthaufen (wir berichteten). Kalkschmid: "Es spricht schon einiges dafür, dass die Personen nicht zufällig in Nordstetten waren, sondern das es eine gezielte Suche war. Möglicherweise lagen dort die 10 000 Euro von Michael Riecher für den Goldkauf."

Geplanter Goldkauf belastet O. Laut Nebenklage-Anwalt Knut Rössler könnten gelbe Zettel im Kalender des Opfers sogar darauf hinweisen, dass es noch einen zweiten möglichen Golddeal kurz vor der Tat gegeben hat. Rössler: "Auf einem gelben Zettel ist von 20 000 Euro die Rede."

Riecher und O. waren gute Freunde, so schildern es Zeugen. O. hatte in Mails das Opfer angefleht, ihm Geld zu leihen. Aus dieser Vorgeschichte kann man zumindest schließen, dass es für O. um mehr als um 1500 Euro Beute gegangen sein könnte. Und das er als jemand, der fast täglich im Haus des Opfers war, sicherlich schnell bei einem Verbrechen ins Visier der Ermittler geraten würde.

Das sind einige der Fakten, die sicherlich auch die Schwurgerichtskammer in seiner mehrstündigen Beratung nach den letzten Plädoyers abgewogen haben dürften. Wie das Urteil ausfällt – das ist schwer zu prognostizieren.

Klar ist nur eins: Für mindestens einen der Angeklagten könnte es heftig werden. Vielleicht sogar für beide.

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