Die heute bei Paris lebende Christa Linkenheil (mit Mikrofon) sprach vor dem Haus der Familie Michelson. Foto: Calw bleibt bunt

Zu einem Stadtrundgang auf den Spuren der Opfer der NS-Zeit von „Calw bleibt bunt“ kamen rund 120 Teilnehmer.

Die Sorge war zunächst groß ob des angekündigten schlechten Wetters. „Calw bleibt bunt“, das Bündnis für Vielfalt, Demokratie und Menschenrechte, hatte zum Stadtrundgang auf den Spuren von Opfern, Widerstandskämpfern und Tätern im Nationalsozialismus aufgerufen. Pünktlich zum Start auf dem Marktplatz strahlte die Aprilsonne und begleitete mehr als 120 Teilnehmer auf ihrem Weg vom Marktbrunnen über sechs Stationen bis zur Abschlussveranstaltung in der Erna-Brehm-Schule.

Wie schnell und mit welchen Mitteln die Nazis die Weimarer Republik demontierten und in eine Diktatur verwandelten, machten die Sprecherin des Calwer Bündnisses, Martina Bühler, und Ralf Köhler am Beispiel der Hesse-Stadt erlebbar.

Beginn der NS-Zeit Nur drei Tage nach der bereits nicht mehr freien Reichstagswahl am 5. März 1933 wurde am Calwer Rathaus die Hakenkreuzfahne gehisst. Öffentlichen Protest dagegen gab es allein von einer Gruppe Calwer Kommunisten. Als einer von ihnen rief „Das Hakenkreuz muss weg“, prügelten Polizei und Nationalsozialisten auf die Protestanten ein. Anschließend rollte eine Verhaftungswelle durch Calw. NSDAP-Kreisleiter Erwin Dirr ließ weit mehr als 100 Personen verhaften, 32 Menschen aus dem Oberamt Calw landeten im KZ. Dies war nur der Anfang einer zwölfjährigen Leidenszeit für Millionen Menschen.

Mahnung, wachsam zu sein „Mit dem Rundgang wollen wir“, so Bühler, „an Menschen erinnern, die in unserer Stadt Opfer der menschenverachtenden Ideologie der Nationalsozialisten geworden sind.“ Die Erinnerung solle mahnen, wachsam zu sein, den Anfängen zu wehren, denn das Unsagbare werde wieder gesagt, Hass und Hetze gegen Andersdenkende, gegen Menschen anderer Herkunft, politischer Couleur oder sexueller Orientierung würden gezielt wieder salonfähig gemacht. Dagegen stehe das Bündnis auf und stelle sich mit diversen Aktivitäten gegen rechte Hetze.

Bei dem Rundgang durch die Altstadt besuchten die Teilnehmer die Wohnorte von Mitbürgern, die unter den Nazis ermordet oder misshandelt und eingesperrt wurden. Es war nach einhelliger Meinung ein beeindruckender, ja bedrückender Spaziergang. Mit seinen vielen neuen Informationen zum tatsächlichen Ausmaß der Verfolgung in jener Zeit, ermutigte er aber auch viele wachsam zu bleiben, weiterzumachen und das Andenken als Mahnung für die Nachwelt im Stadtbild sichtbar zu erhalten und auszubauen.

Forderungen Die Forderung nach Stolpersteinen und die Benennung von Straßen und/ oder Plätzen nach Personen, wie dem Calwer Widerstandskämpfer Hans Ballmann, wurde in mehreren Redebeiträgen bei diesem Anlass erneut erhoben und zustimmend mit Beifall begrüßt. Das Bündnis „Calw bleibt bunt“ will sich nun für diese Anliegen in enger Absprache mit der Stadtverwaltung und den Gemeindefraktionen dafür einsetzen.

Die Stationen gegen das Vergessen waren im Einzelnen:

Zwangsarbeit bei Lufag (Bauknecht-Areal): Adelinde Maucher-Hoffmann von Omas gegen rechts berichtete über das Schicksal von 200 jüdischen Zwangsarbeiterinnen, die vom KZ Auschwitz und Rochlitz kommend zur Zwangsarbeit bei der Calwer Luftgeräte GmbH gezwungen wurden. Dort lebten sie unter menschenunwürdigen Verhältnissen. Dass nur eine Frau starb und alle anderen später von den Amerikanern befreit werden konnten, ist unter anderem dem Chef der Firma, Fritz à Wengen, zu verdanken, der Maßnahmen ergriff, um die Bedingungen zu verbessern.

Familie Michelson, Biergasse 2: Über das Leben von Setty und Otto Michelson berichtete die im Kreis Calw geborene und heute bei Paris lebende Christa Linkenheil. Die Michelsons lebten vor der Machtübernahme hoch angesehen als erfolgreiche, beliebte Geschäftsleute in der Stadt. Sie betrieben ein Damen-Konfektionsgeschäft unter anderem am Marktplatz.

Als Juden wurden sie von den Nazis und vielen Menschen boykottiert, ausgegrenzt und so schließlich aus der Stadt vertrieben. Setty Michelson wurde im August 1942 als 61-jährige in der Gaskammer von Auschwitz-Birkenau ermordet.

Leidensgeschichte erzählt

Hans Ballmann, Lederstraße 27: Beim Treffpunkt vor der Gedenktafel am ehemaligen Wohnhaus des Calwer Widerstandskämpfers, Handwerksmeisters und Kommunalpolitikers Hans Ballmann erinnerte Referent Joe Schwarz. Er berichtete über die Leidensgeschichte von Hans Ballmann, der nahezu zehn Jahre in Zuchthäusern, Konzentrationslagern oder sonstigen Gefängnissen verbrachte.

Dekan Erich Hartmann machte sich in einem Redebeitrag erneut dafür stark, den Platz vor dem Kaufland Hans- Ballmann-Platz zu nennen.

Hermann Schürle, Bischofstraße 52: Hermann Schürle wohnte bis kurz vor seinem Tod im Calwer Steinhaus in der Bischofstraße 52, gleich beim Weinsteg. Er war Familienmitglied der bekannten Familie Gundert. Als einer von 29 von den Nazis ermordeten Behinderten aus Calw und den Stadtteilen wurde er in der Tötungsanstalt Grafeneck bei Gomadingen umgebracht. Referent Christian Hofmann vom Staatsarchiv Ludwigsburg berichtete über die Schicksale der sogenannten Euthanasieopfer.

Rosa Kreuzberger, Gasthaus Linde, Lange Steige 1: Besonders tragisch war auch das Schicksal der Linden-Wirtin Rosa Kreuzberger, über das die ehemalige Buchhändlerin Beate Ehnis berichtete. Die Jüdin Kreuzberger verlor nach dem Unfalltod ihres Mannes jeglichen Schutz vor den Nazis, wurde schließlich von Calw aus ins KZ gebracht und in einer Gaskammer ermordet.

Erna Brehm, Erna-Brehm-Schule, Badstraße: Über Erna Brehm, die Namensgeberin der Grund- und Werkrealschule in der Calwer Badstraße, berichtete bei der letzten Station Adelinde Maucher-Hofmann. Mit 17 Jahren arbeitete Brehm als Haushaltsgehilfin im Café Lutz in der Badstraße. Ihre Freundschaft mit dem jungen polnischen Zwangsarbeiter Marian Gawronsky sollte ihr zum Verhängnis werden. Brehm erfuhr öffentliche Demütigungen und Ächtungen, wurde dann mit Gefängnis und Haft im Frauenkonzentrationslager Ravensbrück bestraft. Sie starb im August 1951 als 27-Jährige an den Folgen der Haft.