Jürgen Klopp hält seine Emotionen nicht zurück, vor allem dann nicht, wenn seine Mannschaft ein Tor erzielt hat.                       Foto: Vieira Foto: Schwarzwälder Bote

Champions League: Leidenschaft, Bereitschaft, harte Arbeit: Helden diese Werte dem FC Liverpool im Finale?

Wenn Spieltag ist in Liverpool, erinnert das Ambiente rund um die Anfield Road an einen Jahrmarkt oder einen Rummelplatz. Die Leute schieben und drängeln Richtung Stadion, das mit der neuen Haupttribüne wie eine Burg über der Szenerie thront. In der Luft hängt der Geruch von Burgern und Frittierfett. Mobile Händler preisen selbst produzierte Fan-Artikel an. Es gibt Fahnen, Schals, Pins und eine breite Auswahl recht origineller T-Shirts.

Ein beliebtes Motiv ist einer Jägermeister-Flasche nachempfunden. In der Mitte zu sehen ist Jürgen Klopp, mit Brille und Kapuzen-Pullover. "Jürgenmeister" steht groß auf dem Hemd. Darunter: "Produced in the Black Forest, Western Germany". Produziert im Schwarzwald. Wo Klopp bekanntermaßen herkommt; seine Jugend verbrachte er in Glatten (Kreis Freudenstadt).

Ein anderes T-Shirt zeigt Klopp mit Rasta-Zöpfen, Wollmütze und einem Joint zwischen den Zähnen. Garniert ist das Bild mit einer Textzeile von Bob Marley: "Don’t worry about a thing." Macht Euch keine Sorgen um irgendwas.

Das Motiv ist natürlich als Scherz gemeint. Über Klopps Verhältnis zu bewusstseinsverändernden Substanzen ist nichts bekannt. Trotzdem enthält das Shirt ein Stück Wahrheit. Denn in seiner dritten Saison beim FC Liverpool hat Klopp (51) die Fangemeinde endgültig überzeugt. Das Publikum an der Anfield Road hat mittlerweile das Gefühl, sich keine Sorgen machen zu müssen, so lange der deutsche Trainer da ist.

Der Schwarzwälder ist kein Taktik-Freak, kein Fußball-Professor, keiner dieser Guardiolas

Doch es reicht nicht, einfach nur ein charismatischer Typ zu sein. Erst recht nicht in der Premier League, der angeblich stärksten Fußball-Liga der Welt. Es müssen auch Ergebnisse her. Und bis weit in diese Saison hinein boten die Resultate Grund zur Skepsis. Denn es gelang Klopp nicht, Angriff und Abwehr in Einklang zu bringen. Seine Mannschaft schoss zwar schon immer viele Tore, doch sie war anfällig in der Defensive. Mit dem Einzug ins Finale der europäischen Königsklasse gegen Real Madrid am Samstag (20.45 Uhr/ZDF) in Kiew hat der Trainer endlich auch sportlich überzeugt.

Wie es aussieht, wächst gerade zusammen, was ohnehin zusammengehört. Klopp ist kein Taktik-Freak, kein Fußball-Professor, keiner dieser Tuchels oder Guardiolas. Er kommt über Leidenschaft und Hingabe. Das war in seiner Zeit bei Mainz 05 und in Dortmund so, und das ist auch in Liverpool so. Er passt damit perfekt zu einem Verein, der stolz ist auf seine Geschichte. Der stolz ist auf 18 Meisterschaften und fünf Siege im Europapokal der Landesmeister und der Champions League, sich aber auch wie kaum ein anderer Klub in Europa über die Mythen definiert, die um ihn herum gesponnen werden.

Das Andenken an die 96 Todesopfer der Hillsborough-Stadionkatastrophe von 1989 gehört genau so zur DNA des FC Liverpool wie die furiose Rückkehr im Champions-League-Finale 2005 gegen den AC Mailand – Sieg nach 0:3-Rückstand zur Pause – oder die Fan-Hymne "You’ll never walk alone". Wenn man es zuspitzt, dann ist die Verbindung zwischen Klopp und dem Klub von der Anfield Road die vielleicht emotionalste Ehe im Fußball.

Der deutsche Trainer hat genau verstanden, welche Knöpfe er drücken muss, um bei den Fans des Vereins und bei den Menschen in Liverpool anzukommen. Ob er das bewusst oder unbewusst tut, sei dahingestellt. Auch wenn Klopp davon spricht, dass er keine Zeitungen lese, um sich ganz auf seine Arbeit zu konzentrieren, trifft er einen Nerv in Liverpool. Das hat wieder mit Hillsborough zu tun. Im Nachgang zu der Katastrophe übernahm die Boulevard-Presse in weiten Teilen die Darstellungen der Polizei und gab Liverpools Fans die Schuld für die Toten. Die Sun berichtete sogar unter der Überschrift "The Truth", die Wahrheit, dass einige Fans die Opfer bestohlen und die Einsatzkräfte behindert hätten. Das erwies sich im Nachhinein als falsch. Die Sun wird seitdem in Liverpool boykottiert. Auch Klopp weigerte sich schon einmal, die Frage eines Sun-Reporters zu beantworten.

Nach nicht einmal drei Jahren im Amt wird der Schwarzwälder schon an den ganz großen Figuren in der Geschichte des Vereins gemessen. Nicht nur wegen seiner Arbeit als Trainer, sondern auch wegen seiner Verbindung zu den Fans und der Stadt. Der Independent verglich Klopp neulich mit Bill Shankly, dem Baumeister des FC Liverpool in den 60er- und frühen 70er-Jahren, weil es beiden Männern gelungen sei, ihre Werte und Vorstellungen auf die Spieler und das Umfeld des Klubs zu übertragen.

Er kann, wenn sein Team ein Tor geschossen hat, an der Seitenlinie wie verrückt entlangsprinten

Klopp ist in Liverpool mittlerweile mehr als ein Fußball-Lehrer. Er ist zum Anführer einer Bewegung geworden. Wenn man Klopp beobachtet, erlebt man viel, was man aus seiner Zeit in Deutschland kennt. Er kann, wenn seine Mannschaft ein Tor geschossen hat, immer noch an der Seitenlinie entlang sprinten als hätte ihm jemand einen Schlüssel in den Rücken gesteckt und aufgezogen. Er liebt es immer noch, bei Pressekonferenzen seine Späße mit Journalisten zu machen. Doch Klopp wirkt nicht mehr so verbissen, wie es vor allem in Dortmund oft der Fall war. Er ist gelassener geworden.

Als er Anfang der Woche, beim Medientag des FC Liverpool, von einem spanischen Reporter zu den Chancen im Finale befragt wurde, gegen Real Madrid, den Champions-League-Sieger der vergangenen beiden Jahre, setzte er ein irritiertes Gesicht auf. Der Reporter wurde nervös und bot an, seine Frage noch einmal zu wiederholen. Nein, nein, sagte Klopp: "Dein Englisch ist brillant. Ich habe die Frage verstanden. Ich muss nur über die Antwort nachdenken." Erleichterung beim Reporter, Gelächter im Raum. Die Antwort lautete dann übrigens: "Erfahrung ist ein Vorteil. Doch man kann Erfahrung auch ausgleichen, und zwar mit Leidenschaft, Bereitschaft und harter Arbeit."

Leidenschaft, Bereitschaft, harte Arbeit. Das sind Klopps Werte. Und es sind auch Liverpools Werte – die Werte des Vereins und der Stadt.