Der mutmaßliche Täter, der den Anschlag auf den BVB-Bus verübt haben soll, wohnt in Freudenstadt. Die Polizei war am Freitag vor Ort. Foto: Müller

28-Jähriger führt unauffälliges Leben. Mindestens seit einer Woche soll W. observiert worden sein. Mit Video

Freudenstadt/Rottenburg/Tübingen - Sergej W. hat bisher ein unauffälliges Leben geführt. In seinem Umfeld nimmt  man kaum von dem jungen Mann aus Freudenstadt Kenntnis. Ahmet Teker, Hausmeister des Freudenstädter Hauses, in dem der 28-jährige W.  mit seinen Eltern wohnt, schildert ihn als nett, ordentlich gekleidet, einer "der sein Geld ehrlich verdient". Kein Mensch, der den Tod anderer leichtfertig in Kauf nimmt – aus Profitgier. Doch genau das soll W. getan haben.

"Ich hätte so was nie von ihm gedacht", sagt der Hausmeister.  Ein großes Auto fährt  W. Und ein echtes Talent in Sachen Elektrotechnik soll er sein. Auch schulisch hat er das bewiesen. Im Juli 2015 überreicht ihm Klaus Michael Rückert (CDU), Landrat im  Kreis Freudenstadt,  den Schulpreis der Heinrich-Schickhardt Schule, einer Berufsschule in Freudenstadt, im Bereich "Elektroniker Betriebstechnik".

Aber wozu  er seine umfangreichen Kenntnisse knapp zwei Jahre später angewendet haben soll, hat  man damals noch nicht ahnen können. Der 28-Jährige ist dringend tatverdächtig, den perfiden Anschlag auf den Mannschaftsbus von Borussia Dortmund geplant und verübt zu haben. Mindestens seit einer Woche soll W.  bereits vom Bundeskriminalamt observiert worden sein. Am 11. April soll  er vor dem Champions-League-Spiel der Dortmunder gegen den AS Monaco drei Sprengsätze nahe dem Mannschaftsbus gezündet haben. Bei der Explosion ist der BVB-Abwehrspieler Marc Bartra von Splittern getroffen und schwer verletzt worden.

Am Freitagmorgen erfolgt dann der Zugriff in Tübingen. Das, was sich in der Frühe in einer Wohnsiedlung in Rottenburg und in Tübingen abspielt, klingt nach einem filmreifen Einsatz. Dort hatte der Freudenstädter sich öfter aufgehalten, möglicherweise, um näher an seiner Arbeitsstelle zu sein.  Laut "Bild" soll das Bundeskriminalamt (BKA) den Mann die ganze Nacht beobachtet haben. Als  W. um 5.16 Uhr aus dem Haus gegangen und in sein Wagen gestiegen sei, habe man die Verfolgung aufgenommen. Wahrscheinlich wollte man sicher gehen, dass der Attentäter in seiner Wohnung keine weiteren Sprengsätze zündet und entschloss sich für diese Strategie.

Drei zivile Wagen sollen ihm gefolgt sein. Als der 28-jährige Elektroniker an seiner Arbeitsstelle in Tübingen, einem Heizkraftwerk auf dem Universitätsgelände "Morgenstelle" ankommt, erfolgt der  Zugriff. Auf der Morgenstelle befindet sich die mathematisch-naturwissenschaftliche Fakultät mit den Fachbereichen Biologie, Chemie, Pharmazie, Mathematik und Physik. Das Heizkraftwerk wird von einem Tochterunternehmen der Mannheimer MVV Energie betrieben. W. hat  seit zehn Monaten in dem Heizwerk gearbeitet, das das Universitätsklinikum mit Wärme versorgt.

Auch am Freudenstädter Wohnsitz ist das BKA im Einsatz. In Haiterbach (Kreis Calw) wird  ebenfalls eine Wohnung durchsucht. Dort soll eine Freundin oder Ex-Freundin von  W. leben.

Noch gibt es einige Fragezeichen zur Person  W. Allerdings wohl nicht bei der Motivlage. Und die scheint weit weg von einem islamistischen, links- oder rechtsextremistischen Hintergrund. Hinter dem Sprengstoffanschlag  steckt nach Erkenntnissen der Ermittler mutmaßlich ein Aktienspekulant. Eine Verdachtsanzeige der Comdirekt-Bank hat die Ermittler auf die Spur gebracht. Gerüchte über Sportwetten machen in Freudenstadt die Runde, mit denen sich  W. hoch verschuldet haben könnte.

Anhaltspunkte für mögliche Gehilfen und Mittäter bei dem Anschlag gebe es bislang nicht, sagt die Sprecherin der Bundesanwaltschaft, Frauke Köhler, am Freitag. Die Ermittlungsbehörde behalte diese Frage aber weiter im Blick. Dem Verdächtigen W. wird versuchter Mord, Herbeiführung einer Sprengstoffexplosion sowie gefährliche Körperverletzung vorgeworfen. Der Mann hat laut Bundesanwaltschaft die deutsche und die russische Staatsangehörigkeit. Wie viel Geld W.  im Fall des Anschlags auf den BVB-Mannschaftsbus maximal an der Börse hätte gewinnen können, ist noch nicht klar. Das werde derzeit noch berechnet, erklärt  Köhler.

Der 28-Jährige habe drei verschiedene Derivate auf die Aktie von Borussia Dortmund erworben – die meisten davon am Tag des Angriffs selbst. Unklar ist auch, wie viel Geld der Mann investiert hat. Laut  Bundesanwaltschaft hat der Tatverdächtige für den Kauf der Derivate einen Verbraucherkredit in Höhe von mehreren 10.000 Euro aufgenommen. Nordrhein-Westfalens Innenminister Ralf Jäger (SPD) erklärt: "Der Täter hat nach meinem jetzigen Stand 79.000 Euro investiert, um entsprechende Aktienoptionsscheine zu kaufen." Nach "Spiegel"-Informationen soll sich der 28-Jährige einen Verbraucherkredit in Höhe von  40.000 Euro besorgt haben.

Sicher ist aber: Je tiefer die Aktie des Fußballvereins gefallen wäre, desto höher wäre der Gewinn für den Verdächtigen ausgefallen. Der BVB war im Jahr 2000 als erster und bisher einziger  deutsche Sportverein an die Börse gegangen. Der Kauf der Derivate wurde den Angaben zufolge über einen Online-Anschluss des Mannschaftshotels abgewickelt, in dem der Tatverdächtige bereits am 9. April – zwei Tage vor der Tat – ein Zimmer im Dachgeschoss bezogen habe – mit Blick auf den späteren Anschlagsort.

BVB-Geschäftsführer Hans-Joachim Watzke zeigt sich befremdet über das mögliche Tatmotiv. "Dass man offensichtlich versucht hat, durch den Anschlag Kurs-Gewinne zu realisieren – das ist natürlich Wahnsinn", sagt er der "Bild". "Wir werden jetzt im Rahmen unserer Möglichkeiten die Sicherheitsvorkehrungen noch mal dramatisch nach oben schrauben", fügt er an. Herkunft und Art des beim Anschlag verwendeten Sprengstoffs sind laut  Bundesanwaltschaft noch nicht ermittelt. Da bei der Explosion der gesamte Sprengstoff umgesetzt worden sei, seien die Untersuchungen "etwas komplexer und etwas aufwendiger", sagte Köhler. Die Kriminaltechniker müssten zum Beispiel Bodenproben untersuchen. Die Ermittler hatten zunächst versucht, Schlüsse aus drei gleichlautenden Bekennerschreiben zu ziehen, in denen ein radikal-islamistisches Motiv für den Anschlag behauptet wird. Die Schreiben waren am Tatort gefunden worden.

Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) bezeichnet die Schreiben als "besonders perfide Art, mit der Angst der Bevölkerung zu spielen". Wenn sich der Verdacht der Ermittler bestätige, habe der Täter versucht, sich als Terrorist auszugeben, sagte er. Das zeige, dass es richtig sei, in alle Richtungen zu ermitteln.

Wie skrupellos  W. zu sein scheint, macht auch eine Situation vom Tatabend deutlich, die die "Bild" schildert: Der Freudenstädter sei den Angestellten des Hotels aufgefallen. "Während alle Gäste aufgeregt durch das Hotel liefen, ging der Mann in aller Seelenruhe ins Restaurant und bestellte ein Steak", schreibt "Bild.de". Danach genießt  er eine Massage und lässt  sich entspannt von der Polizei befragen.

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