Dem Angeklagten Sergej W. droht im Falle einer Verurteilung eine lebenslange Haftstrafe. Foto: dpa

Prozess wird am 21. Dezember eröffnet. Aus Sergej W. werden viele nicht schlau. Lebenslange Haft droht. Mit Video

Freudenstadt/Dortmund - Der mit Spannung erwartete Prozess um den Bombenanschlag auf den Mannschaftsbus von Borussia Dortmund wird am Donnerstag, 21. Dezember, eröffnet. Das Landgericht Dortmund verhandelt einen Fall, der bislang beispiellos ist in der deutschen Rechtsgeschichte: Jemand soll versucht haben, mit einem Attentat und einer gleichzeitigen Börsenwette das große Geld zu machen. Wie im James-Bond-Film »Casino Royale«.

Auf der Anklagebank des Schwurgerichts sitzt allerdings kein erfundener Superschurke, sondern Sergej W., ein 28-jähriger Facharbeiter aus Freudenstadt – technisch sehr begabt, eher mittelgroß, wortkarg, menschenscheu. Ein seltsam unauffälliger Typ. Die Staatsanwaltschaft unterstellt ihm Habgier als Motiv. Aber so einfach scheint die Antwort nicht zu sein.

Bei den Prozessbeteiligten stieg zuletzt die Nervosität, und das nicht bloß wegen des enormen öffentlichen Interesses am Fall. Eine Seite hat sensible Akten »durchgestochen«. Das Nachrichtenmagazin »Der Spiegel« zitierte vorab aus der Anklageschrift und dem psychologischen Gutachten über den mutmaßlichen Täter. Das brachte nicht nur seinen Verteidiger auf die Palme. Nur einer scheint wie immer die Ruhe wegzuhaben: Sergej W. schweigt zu den Vorwürfen und erklärt weiter stoisch, »nichts gemacht« zu haben.

Im psychiatrischen Gutachten steht laut »Spiegel«, dass sich der 28-jährige Deutsch-Russe, seit acht Monaten in Untersuchungshaft, in »gutem Allgemeinzustand« befinde, aber »extrem misstrauisch« sei. In der Schule sei er öfter »Opfer von Mobbing« gewesen. Den Umzug der Familie vor rund 14 Jahren aus einer Industriestadt im Ural in den Schwarzwald habe er »nicht als stark belastend« empfunden. Zwei Monate vor der Tat habe sich seine Freundin von ihm getrennt, die er in einer Kirchengmeinde in Freudenstadt kennengelernt hatte und die er geliebt habe. Sie trat eine Langzeitreise nach Australien an. Zuletzt, sagt W., habe sein Leben nur noch aus »arbeiten und einkaufen« bestanden.

Ein unglücklicher junger Mann, der auf  der Suche nach seinem Weg  in den Seilen hängt?

Den Ermittlungsakten zufolge soll W. jedoch schon immer das Gefühl gehabt haben, »nicht gut genug« zu sein. Weitere Stichworte: Schwermut, Selbstmordversuche, Angst vor Menschen, Behandlung beim Psychiater, stimmungsaufhellende Medikamente, Einsamkeitsgefühle, Sehnsucht nach Liebe und einer eigenen Familie. Ein unglücklicher junger Mann, der auf der Suche nach seinem Weg mal in den Seilen hängt?

Das passt so gar nicht zum anderen Bild von Sergej W. Er zeigt Ehrgeiz. Die Lehre zum Elektroniker schloss er im Sommer 2015 als Bester seines Fachs ab, mit der Note 1,5 und einem Preis. Er besuchte dasselbe Berufsschulzentrum, an dem Ex-BVB-Trainer Jürgen Klopp sein Abitur gemacht hat. So richtig schlau werden offenbar die wenigsten aus dem jungen Mann. Die einen beschreiben ihn als unauffällig, höflich und hilfsbereit. Eine Cousine bezeichnete ihn hingegen als Einzelgänger, der sogar bei einer Familienfeier abseits gesessen und mit niemanden gesprochen habe. Eine andere Bekannte erklärte, W. sei ihr immer »rätselhaft« geblieben.

Antriebslosigkeit, das passt auch nicht zur Tat, die ihm die Staatsanwaltschaft vorwirft. Der Anschlag trägt eher die Handschrift eines gekränkten Narzissten: größenwahnsinnig in Planung und Ausmaß, über Monate hinweg Schritt für Schritt vorbereitet und ohne Rücksicht auf das Leben anderer Menschen ausgeführt. Maximale öffentliche Aufmerksamkeit war garantiert. Im Dortmunder Signal Iduna Park fieberten 81.360 Zuschauer dem Spiel entgegen, ein großer Medientross war vor Ort. Wer nur auf schnelles Geld aus ist, könnte mit weniger Aufwand auch eine Spielbank überfallen.

Die Staatsanwaltschaft denkt in anderen Kategorien, geht von Habgier als Motiv und einer heimtückischen Ausführung aus, was rechtliche Gründe hat. »Habgier« und »Heimtücke« sind zwei der sogenannten »Mordmerkmale«, also juristische Kriterien. Eins davon muss erfüllt sein, um in solchen Kapitalverbrechen zu einem Schuldspruch im Sinne der Anklage zu kommen.

Derzufolge zündete Sergej W. am 9. April ferngesteuert drei selbstgebaute und mit Stahlbolzen gefüllte Rohrbomben, als der Mannschaftsbus des BVB vom Hotel L’Arrivee zum Stadion fuhr. Die Sprengkörper waren grün lackiert und in einer Hecke versteckt. Bolzen zertrümmerten die Busscheiben. Eins der 65 Geschosse steckte danach in einer Kopfstütze. Im Bus saßen 18 BVB-Spieler, der Fahrer und der achtköpfige Trainer- und Betreuerstab um Thomas Tuchel. Sie waren auf dem Weg zum Champions-League-Heimspiel gegen den AS Monaco.

Verteidiger Marc Bartra erlitt einen offenen Bruch am Unterarm, ein Polizist der Motorradeskorte ein Knalltrauma. Die Detonation war heftig, Splitter beschädigten drei weitere Fahrzeuge und die Glasfront eines Hauses an der Straße. Der Sachschaden ging in die Zehntausende. Dass es nicht mehr Verletzte oder gar Tote gab, war wohl Zufall. Die mittlere Bombe sei zu hoch angebracht gewesen und habe »ihre Wirkung nicht voll entfalten« können. Ein Teil der Nägel, fingerlang und zum Schutz vor dem aggressiven Sprengstoffgemisch in Epoxidharz eingegossen, flog über den Bus hinweg.


Den Anschlag bestreitet der 28-Jährige. Er habe in Dortmund nur Urlaub gemacht, beteuert er

Kurzzeitig gingen die Ermittler von einer politisch motivierten Tat aus. Fingierte Bekennerschreiben, hinterlassen am Anschlagsort, sollten die Polizei auf die Fährte von islamistischen Terroristen führen. Zehn Tage später griffen Sondereinsatzkommandos der Polizei im Schwäbischen zu. Sie verhafteten den 28-Jährigen in Rottenburg (Kreis Tübingen), wo er nach dem Auszug aus der Wohnung der Eltern gewohnt hatte. In Freudenstadt durchsuchte das SEK das Appartement der Familie. Seither sitzt W. in Untersuchungshaft, zunächst in Stammheim, mittlerweile in Nordrhein-Westfalen. Den Anschlag bestreitet er. Er habe in Dortmund nur Urlaub gemacht.

Auf die Spur des 28-Jährigen hatte die Beamten wohl ein Börsenmakler aus Österreich geführt – wie es der Zufall wollte ein BVB-Fan, Inhaber von Wertpapieren des Bundesliga-Vereins und Kunde derselben Bank, über die Sergej W. die ominösen Börsengeschäfte abgewickelt hatte. Ihm war laut Ermittlungsakten der Kauf der Optionsscheine im großen Stil zwar aufgefallen, aber er hatte sich zunächst nichts weiter dabei gedacht. Seine Beobachtung meldete er nach dem Anschlag der zuständigen Sonderkommission »Pott«. Danach fügten sich die Puzzle-Teile für die Fahnder rasch zusammen.

Wenngleich bis zu einem rechtsgültigen Urteil die Unschuldsvermutung gilt, erscheinen die Indizien erdrückend. Einige Tage vor dem Anschlag hatte Sergej W. nachweislich 45.000 Euro Kredit aufgenommen und für 44.300 Euro hochriskante Spekulationsscheine gekauft, darunter sogenannte Put-Optionen. Das Kalkül: Wenn die BVB-Aktie an der Börse abstürzt, lässt sich mit solchen Papieren ein Vielfaches an Gewinn machen. Im besten Fall wäre eine halbe Million Euro drin gewesen, meint die Staatsanwaltschaft. Tatsächlich hatte W. die Optionsscheine am Tag nach dem Anschlag verkauft und rund 5870 Euro Gewinn erzielt.

Sergej W. hatte sich im selben Hotel wie die BVB-Mannschaft einquartiert, vorsorglich an beiden Spieltagen gegen Monaco reserviert. Bei der Buchung war noch nicht klar, in welcher Stadt das Hinspiel ausgetragen wird. Zum ersten Mal hatte er Wochen vor dem Anschlag im L’Arrivée eingecheckt. W. verlangte ausdrücklich ein Zimmer hin zur Straße, mit Blick auf den späteren Tatort. Die Börsengeschäfte schloss er über den Internetzugang des Hotels L’ Arrivée ab.
Was erstaunt, ist das planvolle und kühl kalkulierte Vorgehen  des Täters

Die Beamten durchsuchten auch den Arbeitsplatz von W. im Heizkraftwerk der Uni-Klinik Tübingen. Sprengstoffhunde schlugen an W.s Spind  an. Es fanden sich Spuren von Wasserstoffperoxid, das auch als Bestandteil des Sprengstoff-Gemischs am Tatort festgestellt wurde. In der Wohnung entdeckten die Beamten handschriftliche Notizen, gut versteckt. Sie erhärteten den Verdacht einer Anschlagsplanung ebenso wie der Suchverlauf auf dem Computer, wo sich W. im Internet über Aktiengeschäfte und Zünder kundig gemacht hatte.

Was erstaunt, ist das planvolle und kühl kalkulierte Vorgehen des Täters

Wie die Ermittler weiter rekonstruierten, wurden die Bomben wohl in einem Waldstück in der Nähe des Hotels zusammengebaut und die Stelle anschließend mit Treibstoff großflächig in Brand gesetzt, um die Spuren zu verwischen. Während nach dem Attentat vor und im Hotel helle Aufregung herrschte, sah sich W. zunächst den Tatort an und bestellte sich anschließend in aller Ruhe ein Steak im Restaurant des L’Arrivée. Bei der Befragung der Hotelgäste war er den Beamten nicht weiter aufgefallen. Tags darauf gönnte er sich eine Massage im Wellness-Bereich des Hotels. Eine Woche nach dem Attentat suchte er am PC offenbar weitere potenzielle Anschlagsziele, ebenfalls Aktiengesellschaften, darunter von Seilbahnbetreibern in den Alpen.

Mehr Erkenntnisse, auch über die Seelenlandschaft von Sergej W., soll der Prozess zutage fördern. Experten erwarten, dass am ersten Verhandlungstag nicht viel mehr passiert als die Verlesung der Anklage und eine Befragung zur Person von Sergej W. Mit Spannung sehen Juristen der Prozessstrategie der Verteidigung entgegen. Schweigt W. weiter? Bei der Verhaftung soll er der Polizei gegenüber die Bemerkung fallen gelassen haben, sie hätten »schon den Richtigen«. Die Anklage lautet unter anderem auf 28-fachen versuchten Mord. 18 Verhandlungstage bis zum 28. März sind angesetzt.

Übrigens: In »Casino Royale« wettet der Bösewicht, ebenfalls mit fremdem Geld, an der Börse auf sinkende Aktienkurse eines Flugzeugkonzerns. Dazu will er eine Maschine in der Luft sprengen, was misslingt und ihn unter Druck setzt, schnell auf anderem Weg zu neuem Geld zu kommen. Im Film bezahlt der Schurke mit seinem Leben. Sergej W. droht im Falle einer Verurteilung eine lebenslange Haftstrafe.