Foto: dpa/Hildenbrand

Kritik an Familiengericht wird lauter. Tatverdächtiger hätte nie bei Mutter des Jungen einziehen dürfen.

Freiburg - Das Entsetzen über die Taten eines Paares aus dem Freiburger Raum, das mehrere Jahre lang den Sohn der Frau sexuell missbraucht und verkauft haben soll, reißt auch Tage nachdem das Geschehen ans Licht kam, nicht ab. Und es kommen immer neue, grausige Details ans Licht.

"Ich bin fassungslos", sagt die Staatssekretärin im Sozialministerium in Stuttgart und Abgeordnete für den Wahlkreis Breisgau, Bärbl Mielich (Grüne), über den Fall, den das Landeskriminalamt (LKA) als den bisher schwerwiegendsten Fall sexuellen Missbrauchs von Kindern in Baden-Württemberg bezeichnet. Fassungslos ist man dort wohl auch, weil das Martyrium für den Jungen vermutlich  früher hätte beendet werden können. Doch bei den Behörden ist im Vorfeld der Verhaftungen der Tatverdächtigen wohl einiges schief gelaufen.

Richterin lässt Gnade walten

So hätte der 37-jährige Lebensgefährte der Mutter des Opfers, der am 16. September auf dem Parkplatz eines Supermarkts in einer kleinen Gemeinde in Südbaden verhaftet wurde, niemals bei den beiden einziehen dürfen. 2005 wurde er wegen des Besitzes von kinderpornografischen Schriften und ihrer Verbreitung zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr auf Bewährung verurteilt. Später wurde er wieder straffällig.  2009 hatte er eine Beziehung zu einer 13-Jährigen.  Auf einer Festplatte des Mannes, als dessen Name Christian L. genannt wird, fanden die Ermittler laut einem Bericht der "Welt" allein 300 einschlägige Video- und 1000 Bilddateien. Die Richterin ließ Gnade walten und verurteile ihn lediglich zu vier Jahren Haft. "Sie haben eine Chance verdient", soll sie dem Straftäter dem Bericht zufolge mit auf den Weg gegeben haben. Er nutzte sie nicht.

Bereits seit seiner ersten Haftstrafe hätte Christian L. keinerlei Kontakt zu Kindern haben dürfen. Das stand in seinen Auflagen. Deshalb wurde es ihm auch vom Landgericht untersagt, bei seiner Lebensgefährtin, mit der er kurz nach seiner Entlassung zusammenkam, und deren Sohn einzuziehen. Christian L. ignorierte das Verbot. Zwar hatte auch das Konsequenzen – er wurde wegen des Verstoßes zu vier Monaten Haft verurteilt – diese wurden aber nicht durchgesetzt. Weil er Berufung einlegte, wurde das Urteil nicht rechtskräftig. Der Mann konnte also offensichtlich ungehindert weiter  sein grausames Spiel spielen. Gemeinsam mit der 47-jährigen Mutter des heute neunjährigen Jungen, ebenfalls deutsche Staatsangehörige.

Sie ist zwar bei der Polizei noch nie aufgefallen, das Jugendamt jedoch hatte sie schon länger im Blick. Seit Jahren bemühte sich das Amt darum, den Jungen in seiner Entwicklung zu fördern. Nachdem die Polizei auf eine sexuelle Gefährdung hingewiesen hatte, wurde er in Obhut genommen. Das war im März vergangenen Jahres. Konkrete Anzeichen, dass der Mann oder die Frau den Neunjährigen sexuell missbrauchten, habe es zu diesem Zeitpunkt nicht gegeben, sagen das Landratsamt und die Polizei. Das Familiengericht jedenfalls entschied, den Jungen wieder nach Hause zu schicken. Zurück in die Hölle. Dort gingen der Missbrauch und die Besuche der fremden Männer weiter. Im Internet soll das Paar das Kind für jeweils mehrere Tausend Euro anderen Männern zum Sex angeboten haben. Von regelrechten "Flatrates" – für einen bestimmten Betrag sollen sie ein ganzes Wochenende lang alles mit dem Jungen gemacht haben dürfen – ist die Rede. Vieles wurde gefilmt. Einige der Männer sollen sogar aus dem Ausland gekommen sein. Sieben  zwischen 32 bis 49 Jahren sitzen nun wegen Kindesmissbrauchs und Vergewaltigung in Untersuchungshaft. Auch ein 49 Jahre alter Bundeswehr-Soldat soll unter ihnen sein. Michael Mächtel, Oberstaatsanwalt in Freiburg, rechnet laut "Welt" mit einer hohen zweistelligen Zahl an Taten.

Elternrecht steht an erster Stelle

"Das Geschehen muss transparent und gründlich aufgearbeitet werden", verlangt Baden-Württembergs Sozialminister Manne Lucha (Grüne). "Wir werden dort, wo es nötig und möglich ist, die zuständigen Behörden bei der Aufklärung bestmöglich unterstützen." Der Junge ist seit den Festnahmen im September bei einer Pflegefamilie untergebracht.

Doch warum hat alles so lange gedauert? Warum hat das Gericht damals diese Entscheidung getroffen? Staatssekretärin Mielich erklärt, dass das Elternrecht familienrechtlich "leider" an erster Stelle stehe und das Gericht deshalb beschlossen habe, das Kind wieder zu seiner Mutter zu schicken. "Ich kann mir nichts anderes vorstellen", meint sie.  Der Missbrauchbeauftragte Johannes-Wilhelm Rörig nimmt vermehrt Schulen in die Pflicht, Kindesmissbrauch frühestmöglich zu erkennen und so zu verhindern. "Die Schule ist der einzige Ort, wo wir wirklich alle Kinder erreichen können", sagt der Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs – ein Amt der Bundesregierung. "Dass Kinder im Netz angeboten werden, passiert weltweit tausendfach. Das ist nur die sichtbare Spitze des Eisbergs", sagt Rörig. Kindesmissbrauch werde es leider immer geben, aber es könne viel mehr dagegen getan werden. Am wichtigsten sei daher die frühe Bekämpfung. Rörig fordert mehr Investitionen in die Präventionsarbeit an Schulen. "Schulen sollten Kindern Gesprächsmöglichkeiten anbieten und besser darüber aufklären, was sexueller Missbrauch eigentlich sei. Viele Kinder könnten selbst nicht richtig einordnen, was normal ist und was nicht", erklärt er. Versuche in den Vereinigten Staaten zeigten, dass Missbrauchsfälle um bis zu 60 Prozent reduziert werden können, wenn es entsprechende präventive und legislative Maßnahmen gebe.  Die Polizei rät auch Erwachsenen zur Offenheit. Man solle Missbrauch nicht zum Tabuthema machen, sondern mit Kindern offen darüber reden, heißt es auf der Internetseite "Missbrauch verhindern".

Außerdem sollten Mütter und Väter, Lehrer, Erzieher und andere, die viel mit Kindern zusammen sind, aufmerksam darauf achten, ob sie Verletzungen oder Auffälligkeiten bei den Kindern bemerken. Schlafstörungen, aggressives Verhalten oder das Schlafen in Straßenkleidung können den Experten zufolge Anzeichen für Missbrauchserfahrungen sein.