In Deutschland könnten zeitweise Abnehmer vom Netz genommen werden, um einen Kollaps des Stromnetzes zu vermeiden. Foto: © JulieMae – stock.adobe.com

Großflächige Stromausfälle hält die EU-Kommission in diesem Winter in Deutschland durchaus für realistisch. Energie-Experte Kai Hufendiek über das Stromnetz und Risiken.

Oberndorf/Stuttgart - Kai Hufendiek ist Leiter des Instituts für Energiewirtschaft und Rationelle Energieanwendung (IER) der Universität Stuttgart. Ein Gespräch über die Wahrscheinlichkeit von Blackouts, über Sicherheitsvorkehrungen, Heizlüfter und Spätzle, Verzicht und darüber, warum unser Nachbar Frankreich schlechter dasteht als Deutschland.

Herr Hufendiek, einzelne Politiker und der Städtetag warnen vor einem Blackout. Ist das realistisch oder Panikmache?

Erst einmal muss man schauen: Was ist ein Blackout? Zunächst das englische Wort für einen Stromausfall. Stromausfälle kennen wir alle. Solche wird es immer geben, durch technische Defekte etwa. Da fällt lokal oder regional der Strom für ein paar Stunden aus, dann ist er wieder da. Das ist unangenehm, aber nicht tragisch. Mit Blackout wird aber häufig auch der Extremfall bezeichnet, bei dem flächendeckend das Stromnetz in ganz Europa zusammenbricht. Das ist dann nicht innerhalb von Stunden behoben, wird einige Tage brauchen und hat weitreichende Folgen. Innerhalb dieser Zeit läuft gar nichts, weil wir überall Strom mindestens für die Steuerung einsetzen: keine Heizung – auch nicht Gas oder Öl –, kein Telefon, auch kein Tanken, da die elektrische Pumpe nicht mehr funktioniert, und wenn es lange genug dauert, reichen vermutlich auch die Vorräte der Notstromversorgungen Stück für Stück nicht mehr. Es ist ein extrem schlimmes Szenario – aber glücklicherweise auch jetzt nicht sehr wahrscheinlich, weil es zahlreiche technische Vorkehrungen gibt, die das verhindern sollen, selbst wenn nicht genug Strom für alle verfügbar wäre.

Wie funktionieren diese Sicherheitsvorkehrungen?

In unserem Stromnetz ist ein permanentes Leistungsgleichgewicht nötig. Es muss ständig so viel Strom erzeugt werden, wie verbraucht wird. Dafür sorgt am Ende ein technischer Regler bei den Übertragungsnetzbetreibern, der entsprechend Kraftwerke hoch- oder herunterfährt. Wird mehr Leistung benötigt und reicht die hierfür vorgehaltene Leistung einschließlich Reserven nicht aus, dann würden durch automatische dezentrale Schalteinrichtungen einzelne Netzgebiete abgeschaltet. Damit sinkt die Nachfrage dann schnell, bis das Gleichgewicht wieder passt, so dass es nicht zum Komplettausfall des gesamten Systems kommt.

Sie sagten, das Risiko für kürzere Stromausfälle wird steigen. Weshalb?

Es ist eine angespannte Situation. Beim Auto gilt auch, wer einen heißen Reifen fährt, hat ein höheres Risiko, dass es kracht. Und wir fahren jetzt mit unserem System in Bereiche, in denen wir weniger Reserven haben. Damit steigt das Risiko. Der Umbau der Energiesysteme hat sehr viel verändert, das alleine wäre absehbar kein Problem. Aber jetzt ist auch noch die Kraftwerksleistung, mit der wir gerechnet haben, nicht verfügbar, weil weniger Gas vorhanden ist. Dazu kommen die technischen Probleme mit den Kernkraftwerken in Frankreich. Dort sind zahlreiche Kernkraftwerke derzeit vom Netz, da Risse in wichtigen Komponenten entdeckt wurden. Diese müssen erst repariert werden, um sie wieder sicher betreiben zu können, und das braucht Zeit. Durch den Gasmangel und die Ausfälle in Frankreich sind die Erzeugungskapazitäten jetzt in bestimmten Zeiten knapp. Deshalb werden einzelne Stromausfälle wahrscheinlicher als in den Jahren zuvor.

Wie wahrscheinlich?

Das hängt davon ab, wie viel Gas tatsächlich verfügbar sein wird, wie sich die Verfügbarkeit der Kernkraftwerke in Frankreich, wie sich die Nachfrage entwickelt und wie die Erzeugung der erneuerbaren Energien zum betreffenden Zeitpunkt ist. Bei Letzterem haben wir einen erheblichen Wettereinfluss. Beim Gas stellt sich die Frage, wie wir mit der begrenzten uns zur Verfügung stehenden Gasmenge umgehen. Derzeit sind die Gasspeicher relativ voll, das ist erst mal gut. Das kann man sich vorstellen wie bei einem Kühlschrank: Wenn er gut gefüllt ist, reicht der Inhalt eine Zeit lang. Wenn er fast leer ist, man aber nicht einkaufen kann, muss man abwägen, was man wann essen möchte. Sollte zum Ende des Winters schon viel Gas aus den Speichern herausgenommen worden sein, und dann käme eine Kälteperiode verbunden mit geringer erneuerbarer Erzeugung, könnte es knapp werden – weil dann auch für die Stromerzeugung viel Gas benötigt würde. Dann müssen wir entscheiden, wie viel des verfügbaren Gases wir wofür einsetzen: Strom, die Industrieproduktion oder Heizungen in den Gebäuden.

Ist es denkbar, dass in Deutschland zeitweise Abnehmer vom Netz genommen werden, um einen Kollaps zu vermeiden?

Für Deutschland gibt es konkrete Abschaltpläne, die mit den Behörden abgestimmt sind. Dazu gehören auch die automatischen Schaltvorgänge bei Leistungsmangel. Dabei geht es darum, welches Netzgebiet in welcher Reihenfolge abgeworfen werden würde. Beachtet wird etwa: Liegt im Netzgebiet ein Krankenhaus, eine kritische Einrichtung? Werden Gebiete abgeschaltet, ist das aber eine Notfallmaßnahme. Sie erfolgt erst, wenn alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft sind. Da gibt es teilweise auch vertragliche Regelungen mit Industriekunden, die bereit sind, sich abschalten zu lassen. Das erfolgt, bevor Notfallmaßnahmen ergriffen werden.

Wie steht Deutschland da?

Wenn wir genug Gas haben, gibt es zunächst kein Problem in Deutschland. Wie viel Gas im Stromsektor ersetzt werden könnte, ohne die Stromversorgung zu reduzieren, haben wir am IER analysiert: Wenn wir alle in Deutschland vorhandenen Reservekraftwerke aktivieren könnten, Kohle- und Ölkraftwerke, vielleicht auch die Atomkraftwerke weiterbetreiben, dann könnten wir den Gasbedarf, der bislang für die Stromerzeugung eingesetzt wurde, erheblich reduzieren. Und das nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen Ländern, denen wir damit helfen könnten. Diese Reserven haben andere Länder nicht in diesem Umfang – weil es dort keinen Ausstieg aus der Kohle oder Kernenergie gab. Allerdings muss auch klar sein, dass diese Maßnahmen zur Gaseinsparung zu einem höheren CO-Ausstoß führen, der über die Jahre dann zu kompensieren wäre.

Für Frankreich ergeben unsere Analysen jedoch ein erhebliches Risiko von Stromausfällen, falls die Kernkraftwerke nicht rechtzeitig wieder in Betrieb gehen können. Dann würde Frankreich zunächst importieren. Reicht das nicht aus, würden vertraglich Industriekunden abgeschaltet, und wenn das dann auch nicht reicht, würde es als Notfallmaßnahme zu den sogenannten rollierenden Abschaltungen von Netzgebieten kommen. Das bedeutet, dass einzelne Netzgebiete für ein bis zwei Stunden abgeschaltet werden, danach wieder andere.

Frankreich wünscht sich deshalb von Deutschland Strom, Deutschland hätte aus Frankreich gerne Gas, weil Russland nicht mehr liefert. Wie abhängig ist Deutschland von russischem Gas?

55 Prozent des deutschen Gases kamen bislang aus Russland. Das meiste Gas fließt in Deutschland bisher nicht in die Stromerzeugung, sondern vor allem in die Wärmeerzeugung: in der Industrie, aber auch in den privaten Haushalten. Wir müssen also einerseits kurzfristig alternative Quellen erschließen, Importe über LNG-Terminals zum Beispiel und die Nachfrage reduzieren. Doch selbst dann, wenn wir alles kurzfristig Machbare beim LNG ausreizen und die Importe aus Norwegen und Niederlande bis zur Kapazitätsgrenze steigern, bleibt eine Lücke, die wir durch Einsparungen ersetzen müssen. Es kann dabei helfen, wenn wir möglichst keinen Strom aus Gas produzieren, wenn die Industrie auf alternative Energieträger, wie Öl oder andere Rohstoffe ausweichen kann. Und im nächsten Schritt dann Einsparungen, die unter Inkaufnahme von Komfort- oder Produktionsverlusten erfolgen müssen. Wie viel das genau sein wird, lässt sich nicht klar abschätzen, weil auch das Wetter eine wichtige Rolle spielt. Hoffen wir auf keinen kalten Winter.

Welche Rolle spielen erneuerbare Energien?

Die Versorgung mit Erneuerbaren würde theoretisch funktionieren. In 2021 stellten sie schon 40 Prozent der Stromerzeugung. Wenn das Wetter günstig ist, bekommen wir mehr, aber kurzfristig steigern lässt sich das über den schon laufenden Ausbau hinaus nicht. Insofern ist die Rolle der Erneuerbaren für das Management dieser kritischen Situation begrenzt, da wir bereits jetzt jede Kilowattstunde ins System nehmen, die sie liefern.

Einige Endverbraucher versuchen zurzeit, Gasheizungen durch Heizlüfter zu ersetzen. Womit wir wieder beim Strom wären: Was passiert, wenn alle gleichzeitig ihre Heizlüfter einstecken?

Das Problem ist nicht von der Hand zu weisen. Nehmen Sie zwei Heizlüfter mit etwa 2000 Watt in einen Stromkreis im Haushalt, dann fliegt Ihnen die Sicherung raus. Außerdem sind die Kabel in der jeweiligen Straße nicht darauf ausgelegt, dass jeder gleichzeitig viel Leistung zieht. Da auch der Strom teilweise aus Gas produziert wird, spart es vermutlich weniger Gas ein als erwartet. Aber vor allem: Der Einsatz erschließt sich mir nicht. Es ist nicht rational. Vergleichen Sie einfach den Preis, den Sie für eine Kilowattstunde Strom bezahlen mit dem für eine Kilowattstunde Gas. Es dürfte wohl keinen Kunden geben, bei dem die Kilowattstunde Strom günstiger als die Kilowattstunde Gas ist. Auch bei exorbitant gestiegenen Gaspreisen. Das rechnet sich also auch nicht. Eine Ausnahme könnten Kunden sein, die selbst Strom mit einer Fotovoltaik-Anlage produzieren, da entfällt auch das Netzbelastungsproblem, aber auch da dürfte der Nutzen begrenzt sein.

Wenn die Heizlüfter das System an Grenzen bringen, warum schafft es die sogenannte Gänsebratenspitze an Weihnachten nicht, wenn alle gleichzeitig den Backofen einschalten?

Die Industrie fährt an Feiertagen herunter, braucht weniger Strom. Insofern ist Weihnachten nicht der kritische Zeitpunkt für die Leistungsbilanz. Die Leistungsspitze an Weihnachten liegt auf einem mit Werktagen verglichenen niedrigen Niveau. Da können Sie ruhig noch Soße und Spätzle auf dem Herd dazu kochen.

Es ist also gar nicht nötig, auf alles zu verzichten?

Zu meinen Studenten sage ich immer: Wenn wir morgens im Bett bleiben, dann haben wir weder mit dem Klimaschutz noch mit Energie Probleme. Wenn ich aufstehe, verbrauche ich Energie, schaffe aber auch einen Mehrwert, einen Nutzen. Die Herausforderung liegt dort, dass wir den Nutzen erreichen und das mit weniger oder perspektivisch keinen Treibhausgasemissionen.

Wenn sich beim Licht wenig sparen lässt: Was ist Ihr ultimativer Spartipp?

Den ultimativen Spartipp habe ich nicht. Das Beste wäre, alle Gebäude energetisch zu sanieren. Das geht nicht kurzfristig. Aber kurzfristig gibt es ein paar kleine Beiträge, wenigstens etwas Energie einzusparen: Stoßlüften statt Dauerlüftens; Stoßlüften tagsüber, wenn es draußen am wärmsten ist; Rollläden nachts schließen, alte Fenster oder Eingangstüren mit Zeitungsschlitz abdichten – das alles reduziert den Wärmeverlust.

Dicke Vorhänge nachts zuziehen, tagsüber die Sonne hineinscheinen lassen, die Heizung in ungenutzten Räumen herunterdrehen. Das sind alles kleine Möglichkeiten – und zwar noch ohne einen direkten Komfortverlust zu haben.