Der Tübinger Schwurgerichtssaal war Schauplatz eines ungewöhnlichen Falles. Foto: Bernklau

Gewalttätiger Nachbarschaftsstreit: 41-jährige Angeklagte verlässt Gerichtssaal als freie Frau.

Tübingen/Calw - Das Landgericht Tübingen hat die 41-jährige Kurdin freigesprochen, die wegen eines ausgearteten Streits mit einer türkischen Nachbarsfamilie in Calw angeklagt war. Die Schwurgerichtskammer ordnete auch keine Unterbringung in einer psychiatrischen Klinik an.

"Sie verlassen diesen Saal als freier Mensch", sagte der Vorsitzende Richter Ulrich Polachowski am Ende seiner Urteilsbegründung zur Angeklagten. Der Dolmetscher musste das nicht ins Kurdische übersetzen. Der Freispruch wegen Schuldunfähigkeit beendete – ohne weitere Auflagen – einen Prozess, der sich über zwei Jahre hingezogen hatte. Das Amtsgericht Calw hatte das Verfahren wegen einer möglichen Zwangseinweisung der Frau ans Landgericht verwiesen.

Mutter bleibt in ihrer Kultur verhaftet

Das Geschehen – wegen Bissen, Tritten, Schlägen und Kniffen als schwere Körperverletzung und als Bedrohung angeklagt – spielte sich an einem Märztag des Jahres 2015 in einem Mehrfamilienhaus in einem Calwer Teilort ab. Es hatte eine Vorgeschichte.

Die Frau war im türkischen Kurdistan jung mit einem Cousin verheiratet worden. Das Paar ging nach Deutschland, der Mann fand bald Arbeit und Wohnung. Zwei Kinder kamen. Während sich Sohn und Tochter ganz einlebten, blieb die Mutter in ihrer Kultur verhaftet und lernte nur bruchstückhaft Deutsch.

Nach der Scheidung im Jahr 2011 blieben die Kinder zwar bei der Mutter, die Frau aber litt zusehends unter psychischen Problemen. Mehrfach war sie stationär in der Landesklinik Nordschwarzwald. Unter anderem sah sie sich von der türkischen Nachbarsfamilie, die zwei Stockwerke tiefer wohnte, "verhext", vom Vater und vor allem dem Sohn bedrängt, obwohl die unterschiedliche Kultur und Sprache eine Verständigung schwierig machten.

Dann soll sie die Mutter eines Morgens auf dem Weg zu ihrem kleinen Aushilfsjob vor deren Wohnungstür angegriffen und erheblich verletzt haben. Die Angeklagte bestritt das. Sie selbst sei von der Älteren abgepasst, beschimpft und attackiert worden und habe sich nur gewehrt. Die türkische Familienmutter kam ambulant ins Krankenhaus, die Polizei kam ins Haus.

Als der Stammhalter nach Feierabend von dem Geschehen am Vormittag hörte, stürmte er zwei Stock hinauf, klingelte Sturm und hämmerte immer heftiger gegen die Wohnungstür der Beschuldigten und deren Tochter. Zunächst vergeblich. Er habe sie zur Rede stellen und ihr auch Angst einjagen wollen "wie sie der Mutter", sagte er als Zeuge. Dann aber öffnete die Frau doch die Tür und ging dem Nachbarn nach, obwohl die verängstigte Tochter sie noch zurückzuhalten versuchte.

Weil er fälschlich ein hinter dem Rücken verborgenes Messer in der Hand der kurdischen Nachbarin wähnte, versetzte er ihr einen Tritt, der sie zu Boden schickte. Das räumte er ganz offen ein. Im nachfolgenden Handgemenge bekam er Tritte und Bisse ab, genau wie danach der Vater, der dann zur Unterstützung das Treppenhaus bis hinauf zum Zwischengeschoss geeilt war. Ihn trafen Tritte, Schläge und Bisse der wütenden Kurdin noch weitaus heftiger, bis sie – so der Sohn – "ganz plötzlich aufhörte". Wieder kam Polizei, nahm die 41-Jährige auch mit auf die Wache.

Kammer verzichtet auf jegliche Auflagen

Zwei massive Rache- und Todesdrohungen gegen jüngere weibliche Mitglieder der türkischen Großfamilie, die das Gericht für glaubwürdig hielt, sollen wenig später gefolgt sein. Die beiden Senioren konnte die Kammer nicht selbst vernehmen, da sie sich gerade für längere Zeit in der türkischen Heimat aufhalten. Man zog die früheren Aussagen heran. Zwischen den Parteien ist seither nichts mehr vorgefallen. Man geht sich aus dem Weg.

Zugunsten der Angeklagten hatten sich – neben dem freimütigen Eingeständnis des Sohnes eines Einschüchterungsversuchs und einer ersten Tätlichkeit aus vermeintlicher Notwehr – ihre Kinder und der langjährige sozialpsychiatrische Betreuer geäußert, ohne freilich die Aussagen aus der gegnerischen Familie als falsch oder gar als Lüge hinzustellen. Andere Perspektiven eben. So sah das auch die Große Strafkammer.

Der psychiatrische Gutachter Dr. Gunther Essinger hatte in seinem Gutachten nicht nur die langjährigen psycho-affektiven Störungen der Beschuldigten geschildert, sondern auch auf die kulturellen Hintergründe von solchen Verhexungen und Verfluchungen hingewiesen. Seiner Beurteilung auf Schuldunfähigkeit, mindestens aber verminderter Schuldfähigkeit zum Tatzeitpunkt schloss sich Staatsanwältin Susanne Täschner an und plädierte auf Freispruch. Auch eine Zwangseinweisung wegen Gefährdung der Allgemeinheit hielt sie nach der günstigen Prognose des Mediziners und des Betreuers nicht für erforderlich.

Der Verteidiger der Beschuldigten schloss sich dem gleichfalls an, hielt aber auch das verhandelte Geschehen nicht für ausreichend zu Lasten der Angeklagten aufgeklärt. Die türkische Nachbarsfamilie hatte zwar Anzeige erstattet, auf eine Nebenklage aber verzichtet.

Die Kammer ihrerseits verzichtete im Urteil sogar auf jegliche Auflagen. Die ermahnenden Hinweise des Vorsitzenden klangen fürsorglich. Die Angeklagte lächelte verhalten, die Tochter erleichtert. Die 19-Jährige hatte schulfrei bekommen, um ihrer Mutter beizustehen.