Fordern ein Netzwerk gegen Armut und Abstiegsangst (von links): Sebastian Kirsch, Franz Oberhoffner, Andrea Krüger, Monika Wagner und Hakki Dogan. Foto: Bausch Foto: Schwarzwälder-Bote

Aktionswoche: Soziale und diakonische Einrichtungen fordern mehr Initiative der Politik / Hohe Schamgrenze bei Betroffenen

Calw. "So kann es nicht weitergehen!" Dies war die einhellige Meinung der Menschen, die sich anlässlich der Aktionswoche gegen Armut in der Calwer Aula trafen. Sämtliche soziale und diakonische Einrichtungen der Region nahmen die Armut und die weit verbreitete Angst vor dem sozialen Abstieg unter die Lupe. Dabei wurde der Politik kein gutes Zeugnis ausgestellt und an sie appelliert, im sozialen Bereich endlich mehr zu tun.

Eine Theatertruppe des Sozialunternehmens Erlacher Höhe zeigte mit einem Anspiel in verschiedenen Szenen, dass ohne gute Netzwerke kein zufriedenstellendes, gerechtes Zusammenleben möglich ist.

"In Deutschland leben 20 Prozent aller Kinder unter der Armutsgrenze. Bei Kindern aus Migrantenfamilien sind es sogar 28 Prozent", stellte Experte Andreas Reichstein fest. Bei den Rentnern seien es 15 Prozent, und bei alleinerziehenden Eltern sei die Armut in den vergangenen zehn Jahren um 25 Prozent gestiegen.

Reichstein forderte den "Aufbau eines sozialen Gerüsts" und nannte vier wichtige Punkte, die in der Hesse-Stadt ein gutes soziales Miteinander fördern können. Die Große Kreisstadt Calw solle dringend in das Bundesprogramm "Soziale Stadt" aufgenommen werden. "Calw benötigt ein Zentrum, in dem Menschen aus unterschiedlichen Lebenslagen und verschiedenen Kulturen zusammenkommen können", so Reichstein. Weiter forderte der Fachmann die Gründung eines Sozial- und Integrationsausschusses im Calwer Gemeinderat sowie eine starke Förderung des sozialen Wohnungsbaus.

Moderator Götz Kanzleiter von der Landesgeschäftsstelle der Diakonie stellte mehrere Fragen in den Raum. "Wie wirkt sich Armut aus? Was können wir tun? Wer kann das tun?", lauteten diese. Auch hier wurde der Ruf nach deutlich mehr staatlichem Engagement wieder laut. Ein von Armut betroffener Teilnehmer in der Diskussion machte darauf aufmerksam, dass es in Calw viel mehr existenzielle Armut gebe, als man im Straßenbild wahrnehmen könne. "Die Armen wollen es nicht so einfach zugeben und verbergen ihre Situation", hob er hervor. Aber diese Menschen hätten kein Geld für eine dringend benötigte Brille, ein Hörgerät oder wichtigen Zahnersatz. Auch der erfahrene Schuldnerberater Peter Koch bekräftigte: "Armut hat eine hohe Schamgrenze und die Menschen versuchen, sie zu verstecken." Als er vor sechs Jahren nach Calw kam, sei die Armut in der Calwer Öffentlichkeit noch viel weniger wahrnehmbar gewesen als heute.

Die Fachanwältin für Sozial- und Familienrecht, Margit Kömpf, sprach ebenfalls Klartext. "Die Leute kommen zu mir, wenn das Arbeitslosen- oder Krankengeld ausläuft", so Kömpf. Die Betroffenen seien dann gezwungen, ihren letzten Cent für das Notwendigste auszugeben.

Mangel an Teilhabe

Beim Calwer ZOB sieht Kömpf immer mehr Menschen in Mülleimern nach leeren Flaschen suchen, um wenigstens an Kleingeld zu kommen. Sozialarbeiterin Jennifer Winter kümmert sich um junge, unbegleitete Flüchtlinge. "Bei meinen Klienten ist es eher so, dass sie sich arm erleben bezüglich des Mangels an Teilhabe an Kontakten und am gesellschaftlichen Leben und dass ihnen ihre Heimat und ihre Familien fehlen", hob sie hervor.

Ob es überhaupt die richtige Lösung sei, Tafelläden zu betreiben, wurde in den Raum gestellt. Dadurch könne sich die Politik bequem zurücklehnen mit dem Gedanken, für die Armen wird ja schon gesorgt. "Aldi, Lidl und Kaufland sollen ihre Container aufmachen. Dort werden noch gute Waren fortgeworfen, das ist eine Sünde", forderte ein von Armut betroffener Teilnehmer und fügte hinzu: "Die Umgebung lässt uns deutlich spüren, dass wir Probleme haben und wir fühlen uns minderwertig."

Pfarrer Dieter Raschko forderte ein Netzwerk, dass dann als Lobby für die Armen auftreten könne. Die Politik der vergangenen Jahre sei immer gewesen: "Steuern runter, im Sozialen sparen und die Wirtschaft stärken." Man habe dabei vernachlässigt, dass die prekäre Armutssituation anfällig mache für rechte Strömungen. "Die Würde des Menschen wird bei uns verknüpft mit dem Haben und dem gesellschaftlichen Schein", unterstrich Raschko. Es gehe in der Frage der Armutsbekämpfung um einen Rechtsanspruch auf Hilfe und Teilhabe. "Niemand darf unter die Räder kommen", forderte der Geistliche. Armut sei eine Schande für das reiche Deutschland. Und letzten Endes gehe es um den Frieden in der Gesellschaft.