Einst Chef des Gesamtbetriebsrats bei Daimler, jetzt SPD-Kreisrat: Erich Klemm. Foto: Martin Bernklau Foto: Schwarzwälder-Bote

Der frühere Daimler Betriebsrats-Chef Erich Klemm macht jetzt für die SPD Politik im Kreistag / Einst Vertreter von 270 000 Beschäftigten

Von Martin Bernklau Calw. Er zählte immer zu den Jüngsten. Jetzt, mit 60, ist Erich Klemm in den Ruhestand getreten. Der langjährige Gesamtbetriebsrats-Chef der Daimler AG galt vielen als einer der mächtigsten Arbeitnehmer-Vertreter in Deutschland. Jetzt ist er für die SPD in den Calwer Kreistag eingezogen. Für so ein Mandat hätte er zuvor "überhaupt nicht die Zeit gehabt", sagt er. Calw, wo er vor 38 Jahren mit seiner Frau ein Haus in Stammheim baute, konnte für Erich Klemm "kaum mehr als eine Schlafstadt" sein. Wenn es kriselte im Konzern, etwa zu Zeiten, als die AG DaimlerChrysler hieß, musste er als oberster Arbeitnehmer-Vertreter und stellvertretender Aufsichtsrats-Chef von harten Verhandlungen in Detroit zurück nach Stuttgart jetten, um unmittelbar im Anschluss bei Betriebsversammlungen vor Tausenden von Kollegen zu sprechen. Das konnte er, druckreif und meist ruhig.

Als lautstarker Arbeiterführer oder wortmächtiger Klassenkämpfer galt Erich Klemm nie. Manche Medien nannten ihn sogar "öffentlichkeitsscheu". Aber sowohl in der Gewerkschaft als auch bei den Wirtschaftsführern und den Politikern schätzte man ihn als klugen, pragmatischen und starken Vertreter der Arbeitnehmer-Interessen und als ebenso geschickten wie verlässlichen Verhandlungspartner. In Calw trat der einflussreiche Gewerkschafter bis dahin nie öffentlich in Erscheinung.

Nur in eher engeren Parteikreisen wusste man von der Bedeutung des Genossen, obwohl er, wie Erich Klemm mit feinem Lächeln sagt, "sozusagen von Geburt an Sozialdemokrat war". Mit Blick auf den anstehenden (Teilzeit-) Ruhestand willigte er ein, als der Calwer SPD-Kreisverband ihn bat, sich doch für die Kreistagswahl aufstellen zu lassen. Im Bezirk Calw wurde er aus dem Stand Stimmenkönig der Sozialdemokraten.

Schon Erich Klemms – früh gestorbener – Vater arbeitete "beim Daimler", war Genosse, Metaller und Stadtrat in Sindelfingen. Als der Sohn nach der Realschule seine Lehre als Maschinenschlosser im Sindelfinger Mercedes-Werk begann, trat er ganz selbstverständlich der IG Metall bei, wurde Jugendvertreter und noch im ersten Lehrjahr Vorsitzender des Gremiums. Vor der "Willy-Wahl" 1972 klebte er Plakate für die SPD. Bei den Jusos mischte er nie richtig mit, sondern ging "gleich zu den Großen".

Nach der Ausbildung kam Klemm in die Verfahrensentwicklung im Werk Sindelfingen. Schon 1978 wählte ihn die Belegschaft zum freigestellten Betriebsrat. Nebenher absolvierte er an Abendschule und Wirtschaftsakademie eine zweite Ausbildung zum Personalfachkaufmann – aus einem einzigen Grund: "Ich wollte den Betriebsrats-Job gut machen."

Als Erich Klemm 1989 Betriebsratsvorsitzender im Werk Sindelfingen wurde, hatte sich der junge Mann aus dem Arbeitermilieu längst Anzug und Krawatte zugelegt, "um mit den Managern auf Augenhöhe zu verhandeln". Er hat sie dann alle kennengelernt: den legendären Metaller Willi Bleicher oder seinen Nachfolger Franz Steinkühler bei der Gewerkschaft, die Vorstände und Konzernchefs von Werner Niefer, Edzard Reuter oder Jürgen Schrempp bis Dieter Zetsche und die Aufsichtsräte von Alfred Herrhausen über Hilmar Kopper bis zu Manfred Bischoff auf der Gegenseite. In oft nächtelangen Tarifrunden galt er als zäher und doch kompromissbereiter Verhandler.

Im Jahr 1999 wurde Klemm Chef des Gesamtbetriebsrates im weltweiten Automobilkonzern und vertrat damit die Interessen von zuletzt 270 000 Beschäftigten. Die damit verbundene Macht empfand er stets als Auftrag. Von Anfang an hatte er eine klare Devise für seine Arbeit: "Immer muss der Mensch der Maßstab sein – und seine Interessen." Das gilt ihm für die Arbeitsplatzsicherheit und die Arbeitsbedingungen, für Ausbildung und Rente ebenso wie für den gerechten Lohn.

Zehn Jahre dauerte der Gewerkschaftskampf für die 35-Stunden-Woche in der Metallindustrie. Klar, dass auch ihm Manches nicht gelang. Als größte Erfolge seiner Arbeit betrachtet Erich Klemm zum einen die Tatsache, dass es den Daimler-Beschäftigten unter seiner Führung gelungen sei, "alle Krisen und Konflikte ohne betriebsbedingte Kündigungen durchzustehen". Als Zweites nennt Klemm den Umgang mit der weltweiten Finanzkrise ab 2008. Viel wichtiger als die konjunkturfördernde Abwrackprämie war für die Menschen weit über die Automobilindustrie hinaus der aus der IG Metall stammende Vorschlag, die Kurzarbeiter-Regelung zu verlängern und so Massenentlassungen zu verhindern.

"Nicht kommen und alles besser wissen"

Die inzwischen als entscheidend für die deutsche Krisenbewältigung geltende Idee kam über den Arbeitsminister Olaf Scholz an den Kabinettstisch der Großen Koalition. Er selbst hatte sie intensiv mit Gewerkschaftschef Berthold Huber beraten, der sie dann einbrachte. Die Regierung unter Angela Merkel und Finanzminister Peer Steinbrück setzte sie rasch um. "So etwas kann man nur gemeinsam durchsetzen", sagt Klemm heute.

Als neues Kreistags-Mitglied will Erich Klemm "nicht kommen und alles besser wissen". Er ist in den Verwaltungs- und Wirtschaftsausschuss gegangen. Als Schwerpunkte seiner Arbeit betrachtet er die Verkehrsanbindung des Landkreises, auch mit der wiederbelebten Hesse-Bahn. "Die Krankenhäuser müssen funktionieren", sagt der immer noch als AOK-Verwaltungsrat und beim Automobilclub ACE aktive Gewerkschafter. Schulen, Bildung, Integrations- und Flüchtlingspolitik hält er für nicht minder dringliche Aufgaben. Auch für Fahrradwege will sich Erich Klemm im Kreistag einsetzen. Bei einem Urlaub hat er das E-Bike entdeckt und sich eines bestellt. Dieser Tage will er es abholen. Er freut sich drauf.