Anna Greiter und Benedikt Schregle lasen Hermann Hesses Erzählung "Eine Fußreise im Herbst". Foto: Meinert Foto: Schwarzwälder-Bote

Lesesommer: Schriftsteller von seiner braven Seite gezeigt / Altersdurchschnitt deutlich über 60

Calw. Es gibt zwei Hermann Hesse. Den wilden, revolutionären Hesse des "Steppenwolf". Und den braven Hesse der lieblichen Naturbeschreibung und der Beschwörung einer heute längst versunkenen ländlichen Idylle. Beim Gerbersauer Lesesommer erhält auch der zweite Hesse viel Beifall.

Niemand weiß, was Hermann Hesse dazu gesagt hätte, dass seine Texte in der Schalterhalle einer Bank gelesen werden – und dann noch in der Bank seiner Heimatstadt. Dass der Dichter zu Calw, modern ausgedrückt, eine reichlich gespaltene Beziehung hatte, ist sattsam bekannt. Just von diesem schwierigen Verhältnis handelt auch die Erzählung "Eine Fußreise im Herbst", präsentiert von den beiden jungen Moderatoren Anna Greiter und Benedikt Schregle im Foyer der Sparkasse.

Calw heißt in der Erzählung einmal nicht Gerbersau sondern Ilgenberg, die Erzählung schrieb Hesse 1906 – und der Schlüsselsatz der einst Angebeteten an den Wanderer, der nach vielen Jahren in die Heimat zurückkehrt, lautet: "Sie haben schon damals nicht recht nach Ilgenberg hereingepasst, mit all Ihren Ideen, und es wäre nicht das Richtige gewesen." Nicht hineinpassen – die Erfahrung hat Hesse immer wieder gemacht. "Hesse hat Calw geliebt, aber auch seine Schwierigkeiten gehabt", meint Kenner Herbert Schnierle-Lutz, Organisator des Lesesommers.

Holder brilliert mit schwäbischem Vers

Untermalt wurde der Abend wie so häufig vom Hesse-Quartett mit Susanne Holder (Viola), Beate Holder-Kirst (Cello) sowie Wolfgang Brodbeck und Manfred Holder (Violine). Die Musiker lockerten die Präsentation der leicht gekürzten Erzählung durch teils spritzige, teils nachdenkliche Stücke von Haydn, Telemann und Mozart angenehm auf. Holder brillierte sogar mit einer Extraeinlage, als er in wunderbar breitem Schwäbisch einen kurzen Vers der Erzählung rezitierte: "Stuegert isch e schöne Stadt/Stuegert lit im Tale/wo’s so schöne Mädle hat/aber so brutale." Auch einen Schuss Humor hatte Hesse in seine Erzählung gegeben.

Die Erzählung "Eine Fußreise im Herbst" schrieb Hesse 1906. Er war damals frisch verheiratet, hatte mit "Peter Camenzind" seinen ersten größeren Erfolg gefeiert, auch finanziell, und konnte den Brotberuf des Buchhändlers endlich aufgeben. In Gaienhofen am Bodensee richtete sich der junge Dichter in einem abgelegenen Bauernhaus ein ländliches Refugium ein – Wasser musste vom Brunnen geholt werden, Gas und Strom gab es nicht, berichtet er selbst.

Es ist denn das Idyll einer heute längst versunkene Zeit, das Hesse auch in seiner Erzählung aufleben lässt. Es ist die Welt, in der noch Pferdefuhrwerke gemächlich über staubige Landstraßen fuhren, die Welt der behaglichen Gasthöfe, wo der müde Wanderer noch einen Schlafplatz am Ofen bekommt, die Hesse in dieser Erzählung sattsam und ausgiebig und durchaus nicht ohne Langatmigkeit beschreibt. Es ist der brave Hesse, nicht der Getriebene, der Wilde und der Revolutionär, der später den "Steppenwolf" schreibt – und die Jugend der Welt mit seiner Sinn- und Identitätssuche in Bann zieht.

Das ist die Krux des Abends: Ausschließlich Grauköpfe sind gekommen, Altersdurchschnitt deutlich über 60 – nicht ein junger Mann oder junge Frau, sagen wir zwischen 20 und 30, hat den Weg zur Sparkasse gefunden. Ist Hesse unmodern geworden? Können junge Leute heute mit dem großen Sinnsucher nichts mehr anfangen? Zählt Hesse nicht mehr zur Pflichtlektüre der Jugend?

Schnierle-Lutz meint, ein Abend in den Räumen einer Bank sei "für junge Leute eben zu offiziell". Wirklich? Sollte man dann nicht das Konzept anpassen? Immerhin: Selbst der Edel-Hesse-Fan Udo Lindenberg ist schließlich kein junger Mann mehr, sondern mittlerweile 71.

Recht brav war denn der Abend, doch als Lohn endet die Erzählung mit einer von Hesse schönsten Gedichten. "Seltsam, im Nebel zu wandern!" Immerhin: Für ein paar Stunden haben es Hesse, das Duo der Vortragenden und das Hesse-Quartett geschafft, die Schalterhalle einer Bank zu erwärmen – das Senioren-Publikum dankt mit warmen und langem Beifall.