Boris Palmer (Zweiter von links) umringt von den Nagolder Honoratioren bei der Nagolder Weinrede. Foto: Thomas Fritsch

Das Tübinger Stadtoberhaupt sorgt bei der Nagolder Weinrede für ein volles Haus. Kann man als Weinredner über alles reden, nur nicht über Wein – und dennoch frenetisch gefeiert werden? Ja, man kann. Wenn man Boris Palmer heißt.

Es ist diese einzigartige Rezeptur, die dieses nunmehr 20 Jahre alte Veranstaltungsformat zum Erfolgsmodell gemacht hat. Man nehme ausgesuchte Weine, heuer vom renommierten italienischen Weingut Endrizzi, eine nicht minder erlesene Küche, abermals als Gaumen- und Augenschmaus kredenzt von Sternekoch Franz Berlin aus Bad Teinach-Zavelstein, und einen Protagonisten von gesellschaftlichem Rang, der als Zugpferd fungiert und mit seiner Rednergabe zu überzeugen versucht. Fertig ist die Nagolder Weinrede.

Weinredner mit Glamourfaktor

Was im Jahr 2001 mehr als Schnapsidee begann, damals mit dem Nagolder Unternehmer-Urgestein Rolf Benz am Holzfass, hat mittlerweile eine fulminante Entwicklung genommen. Helmut Raaf als Ehrenvorsitzender des Gewerbevereins zauberte – wenn nicht gerade Corona dazwischen kam – als Strippenzieher im Hintergrund Jahr für Jahr einen Weinredner mit besonderem politischen Format oder zumindest mit etwas Glamourfaktor aus dem Hut. Landesväter waren schon hier, ein EU-Kommissar und reichlich Hochadel.

An einem Mann blieb Raaf in den letzten Jahren hartnäckig dran: an Boris Palmer. Der seinem Vater Helmut Palmer, besser bekannt als Remstalrebell, als Tübinger Stadtoberhaupt alle Ehre macht. Das Enfant terrible der Grünen, das mittlerweile seine Partei wegen diverser rhetorischer Eklats verlassen musste, ist nicht nur stets bundesweit für eine Schlagzeile gut, sondern auch für ein volles Haus.

Volles Haus bei der diesjährigen Nagolder Weinrede Foto: Thomas Fritsch

Gewerbevereinschef Ralf Benz saß an diesem Abend dennoch auf Kohlen. „Wir sind mehr als froh, dass Sie da sind“, rief er dem Tübinger OB zu, als der etwas verspätet unter den Ehrengästen Platz nahm. Palmer wollte ursprünglich mit dem Zug anreisen, entschied sich bei der Wahl seines Transportmittels kurzfristig doch fürs Carsharing-Auto. Als Organisatorin Siegried Plaschke gemeinsam mit Thomas Kemmler aus der schwäbischen Endrizzi-Linie über die „Frische und Eleganz“ des im Saal zur Terrine vom Perlhuhn gereichten Tropfens schwärmte, nippte Boris Palmer zum ersten Mal an seinem Glas – gefüllt mit Wasser. Wein, sagte er offen, trinke er nicht.

Tennisstar wird zum Running Gag

Aber zum unterhaltsamen Weinredner taugt er allemal. Für den rhetorischen Ausrutscher sorgte indes nicht der Tübinger Gast, sondern Ralf Benz selbst, der den Gast versehentlich als „Boris Becker“ begrüßte. Das war der Running Gag des Abends. Palmer schmierte es Benz vor dem sanft gegarten Würzbacher Saibling auch gleich genüsslich aufs Butterbrot und empfahl ihm den einstigen Tennisstar als künftigen Weinredner.

Siegried Plaschke schenkt den Gästen der Nagolder Weinrede ein. Foto: Thomas Fritsch

Palmer selbst umschiffte mit seinem gesetzten Thema alle aufsehenerregenden Untiefen. Noch auf der Herfahrt von Tübingen nach Nagold, so erzählte er freimütig, entschied er sich statt übers Flüchtlingsthema („Wir schaffen das nicht“) lieber über die überbordende Bürokratie in der Kommunalpolitik zu räsonieren. Sein Kalkül ging auf. Für große Schlagzeilen war sein schwäbelnder Ritt mit dem Amtsschimmel zwar nicht gut, aber dafür für manchen Lacher im Publikum: „Ich erzähl, wie Bürokratie im Rathaus in der Wirklichkeit aussieht.“

Wie zum Beispiel vom Bau einer städtischen Solaranlage mit achtjähriger Planungs- und zweiwöchiger Bauzeit. „Das ist Deutschland. Das ist Deutschland-Tempo“. Oder vom 2,32 Meter breiten Renaissance-Tor des Tübinger Schlosses, das nicht als Fluchtweg für eine größere Gästeschar taugt. Und sowieso der Datenschutz. Der „Wahnsinn“, wie Palmer sagt. Dabei konnte er sich einen parteipolitischen Querschuss nicht verkneifen. Der oberste Datenschützer im Land sei „halt ein FDPler“. Und der 51-jährige OB weiß natürlich, wie man’s besser machen kann. Nach dem Prinzip: Wogegen nach drei Monaten nichts spricht, müsse jedes Verfahren genehmigt werden.

Rückkehr des „gesunden Menschenverstandes“

Kommunale „Abweichungskompetenzen“ würden seiner Meinung nach zudem die Bürokratie stärken. Und Palmer würde es ersparen, dass ein Regierungspräsident ihn „von oben herab schurigelt“. Zu guter Letzt postulierte Palmer für die Politik einen Begriff, der von dem nicht minder schlagzeilenträchtigen bayerischen Vize-Regierungschef Hubert Aiwanger im bierseligen Wahlkampf zuletzt arg strapaziert wurde: die Rückkehr des „gesunden Menschenverstandes“. Das Publikum goutierte es und feierte Palmer auf der nach oben offenen Beifallsskala so lange wie kaum einen anderen Weinredner. Rezzo Schlauch und Günther Oettinger bleiben als Weinredner gleichwohl unerreicht.

Die guten Geister des Gewerbevereins, die für den Service zuständige Stadtkapelle und das Küchenteam mit Sternekoch Franz Berlin stellten sich nach einem gelungenen Abend zum Gruppenbild. Foto: Buckenmaier

Palmer steht nun im Goldenen Buch

Nur mit Zugabe, aber eher, weil der Hauptgang (Ochsenschwanzjus mit Pastinake und wildem Brokkoli) noch nicht auf den Tellern war, durfte Palmer von der Bühne. Erlöst von Nagolds OB Jürgen Großmann, der ihn ins Goldene Buch der Stadt eingetragen ließ.

Und die Gäste taten, was sie seit 20 Jahren am besten können: feiern und genießen. Aber auf Boris Becker als Weinredner werden sie wohl vergeblich warten. Der finanziell arg klamme Tennisstar ist wohl nur für reichlich Geld zu haben. Und Weinredner zu sein, ist Ehrensache. Als Belohnung für den Stargast gibt es nur ein paar Flaschen Wein. Da wird auch für Abstinenzler wie Boris Palmer keine Ausnahme gemacht.